Protestieren
Wenn Kinder gegen ihre Eltern protestieren, werden sie häufig als unvernünftig betitelt. Der Protest von Kindern ist aber meistens nichts anderes als ein Zeichen ihrer gesunden Entwicklung und bei näherer Betrachtung zudem höchst vernünftig. Eltern sollten deshalb zumindest während den beiden ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung jeweils genau hinschauen, aus welchen Gründen sich das Kind gegen sie auflehnt und das "Nein!" des Kindes genauso respektieren, wie sie es umgekehrt vom Kind auch erwarten.
Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)
Während der Vertrauensbildung vertraut das Kind seinen Eltern noch völlig. Es wird deshalb bloss protestieren, wenn Sie ihm etwas antun, das seinen Grundbedürfnissen zuwiderläuft, so zum Beispiel (in alphabetischer Reihenfolge):
- Festhalten: Kinder müssen sich möglichst frei bewegen können. Wenn sie gegen ihren Willen festgehalten werden, beginnen sie schnell zu protestieren. Sie sollten sich deshalb so einrichten, dass das zumindest in Ihrer Wohnung möglich ist, ohne dass Sie sich dauernd vor irgendwelchen Missgeschicken und Misstritten fürchten müssen. Aber auch ausserhalb der Wohnung sollten Sie das Kind möglichst immer sich frei bewegen lassen, ausser natürlich es drohen wirkliche Gefahren. Das heisst zum Beispiel, dass Sie das Kind auch dann selbst laufen lassen, wenn es für Sie bequemer wäre, es im Wagen zu schieben.
- Essen: Wenn Ihr Kind das Essen verweigert, müssen Sie das respektieren, denn entweder mag es nicht, oder noch nicht. Hingegen sollten Sie sich gut überlegen, ob und welche Alternativen Sie ihm anbieten. Selbstverständlich bieten Sie ihm in erster Linie kindergerechte Speisen an, wie zum Beispiel weich gekochtes Gemüse. Doch sollten Sie grundsätzlich bei dem bleiben, das Sie selbst essen (und nicht einfach dem Kind den Kühlschrank überlassen, weil es einfacher erscheint). Bedenken Sie immer, dass ein Kind nicht so schnell verhungert, bloss weil es gelegentlich nichts oder nur wenig isst, denn wenn es Hunger hat, isst es grundsätzlich alles!
- Hilfe: Kinder wollen möglichst immer alles selbst tun, was ein ausgesprochen gutes Zeichen ihrer gesunden Entwicklung ist. Gegen unverlangte Hilfe können sie energisch reagieren, auch wenn diese noch so gut gemeint sein mag. Sie sollten deshalb lernen, den Fähigkeiten des Kindes zu vertrauen, und ihm erst helfen, nachdem Sie es gefragt haben und es das bejaht hat (was es auch durch seine Mimik oder Gestik ausdrücken kann).
- Kleider: Während Säuglinge anfangs ihre Körpertemperatur noch nicht selbst regulieren können und deshalb darauf angewiesen sind, dass die Eltern für genügend Wärme sorgen, werden sich Kleinkinder schon bald dagegen wehren, wenn sie zum Beispiel zu warm angezogen werden. Das ist absolut vernünftig, denn nur das Kind selbst kann spüren, wieviel Wärme es braucht. Was es hingegen noch nicht kann, ist sich vorzustellen, dass es ausserhalb der Wohnung kälter wird, da es noch keine Vorstellung von Zukunft hat. Wenn Sie also mit ihm fortgehen wollen, es bereits in der Wohnung warm anziehen und es dagegen protestiert, können Sie mit ihm abmachen, dass Sie ihm die warme Jacke erst draussen anlegen, wenn ihm tatsächlich kalt wird. So wird es nach einigen Wiederholungen den Zusammenhang verstehen und schon bald von sich aus die Warme Jacke bereits in der Wohnung anziehen.
- Schlaf: Kinder können immer dann - und nur dann! - einschlafen, wenn sie erstens müde sind und zweitens bereit dazu sind. Wenn Sie das Kind zwingen wollen, schlafen zu gehen und es dagegen protestiert, entsteht ein Teufelskreis, da es dadurch noch wacher wird und umso weniger bereit sein wird schlafen zu gehen. Warten Sie also besser noch eine Weile und lassen Sie das Kind den Schlaf als das erleben, was er eigentlich für alle Menschen ist, nämlich etwas Angenehmes!
Wenn das Kind gegen seine Eltern protestiert, setzt es eine Grenze, die Sie als Eltern genauso respektieren müssen, wie Sie es umgekehrt vom Kind fordern.
Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)
Wenn das Kind beginnt seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, kann der Protest des Kindes auch noch andere Ursachen haben als unbefriedigte Grundbedürfnisse. Es protestiert dann insbesondere auch dann, wenn Sie ihm eine Grenze setzen, weil es mit seinem Willen zu weit ging. Wenn Sie sich dieser Grenze sicher sind, müssen Sie konsequent bei Ihrer Haltung bleiben und Widerstand leisten. Und vor allem werden Sie lernen müssen, angemessen auf allfälliges Toben zu reagieren.
Kinder brauchen gerade in dieser Phase Herausforderungen, sie wollen zeigen, wieviel Kraft sie haben und wie hoch sie klettern können. Muten Sie Ihrem Kind zu, dass es mit den damit verbundenen Gefahren umgehen kann. Wenn Sie es überbehüten, wird es ziemlich sicher dagegen protestieren (im schlechteren Fall hingegen resignieren!). Sie müssen also lernen zu vertrauen, dass Kinder ein hervorragendes Gespür für Gefahren haben, in die sich selbst hineingeben (anders sieht es natürlich bei künstlichen Gefahren, wie zum Beispiel dem Strassenverkehr, aus).
Sozialisation bis Pubertät (etwa 4 bis 16 Jahre)
Wenn Sie während den beiden ersten Phasen der Erziehung gelernt haben, mit dem Protest des Kindes konstruktiv umzugehen, werden Sie staunen, wie schnell und einfach das Kind nun bereit sein wird, mit Ihnen zu kooperieren. Das beste Mittel dazu sind Regeln des alltäglichen Zusammenlebens zu vereinbaren. Dieser Prozess sollte mehr und mehr auf einer partnerschaftlichen Ebene ablaufen, zumal Sie schon aufgrund der zunehmenden körperlichen Kraft und der Geschicklichkeit des Kindes auf die Freiwilligkeit angewiesen sein werden!
Mit dem Einsetzen der Pubertät wird sich das Kind naturgemäss von seinen Eltern und insbesondre von deren Wertvorstellungen lösen wollen. Wie heftig der damit verbundene Protest ausfällt, hängt nicht nur von der Persönlichkeit des Jugendlichen ab, sondern insbesondere auch davon, wie liberal Ihre Haltung bisher war. Oder anders gesagt: Je enger die Ketten waren, desto mehr Gewalt braucht es, diese zu sprengen. Bleiben Sie aber in jedem Fall möglichst gelassen und nehmen Sie den Protest nicht allzu persönlich: Jugendliche müssen zuerst einmal vor allem deshalb Extrempositionen einnehmen dürfen, um sich selbst finden zu können. Und da sie bisher ihre Eltern zum Vorbild nahmen, ist die erste Extrempostion immer die Opposition zu den Eltern. Hören Sie deshalb einfach einmal zu, wenn zum Beispiel Ihre Tochter plötzlich der Meinung ist, Sie würden sich völlig falsch ernähren. Statt sich gleich zu verteidigen, können Sie zunächst einmal nach nach ihren Argumenten fragen. Und lassen Sie sie auch einmal etwas ausprobieren, das Sie selbst für unsinnig halten. Denn mit grösster Wahrscheinlichkeit hat das Ganze weniger mit der Qualität Ihrer Ernährung zu tun, als mit der Selbstfindung der Tochter!
Die Früchte Ihrer Erziehungsarbeit der ersten Jahre können Sie schliesslich darin erkennen, wie sehr sich der Protest der Jugendlichen gegen die Gesellschaft richtet, also weniger gegen Sie als Eltern. Denn reife Jugendliche haben den Drang, sich vornehmlich ausserhalb der Familie zu bestätigen, also bei ihren Kameraden.
"Nein" des Kindes
Wenn ein Kind protestiert, sagt es damit auch mehr oder weniger ausdrücklich "Nein!". Dieses "Nein!" müssen Sie als Eltern genauso respektieren, wie Sie Ihrerseits vom Kind fordern, dass es Ihr "Nein!" respektiert. Wenn Sie zum Beispiel mit ihm die Strasse überqueren wollen und verlangen, dass es Ihnen aus Sicherheitsgründen die Hand gibt, es dagegen aber protestiert, dürfen Sie es nicht einfach packen und über die Strasse zerren, denn das wäre eine Grenzüberschreitung. Wenn Sie aber auf Ihrer Forderung beharren wollen, was ja im Beispiel offensichtlich Sinn macht, können Sie ihm die Gefahr erklären und ihm sagen, dass Sie so nicht weitergehen können. Wenn es dann immer noch nicht einlenkt, hat das nicht etwa mit Unvernunft zu tun, sondern viel eher damit, dass jüngere Kinder die Gefahr des Strassenverkehrs noch gar nicht einschätzen können und deshalb auch den Sinn Ihrer Vorsichtsmassnahme nicht verstehen können. Damit bleibt Ihnen einzig der Widerstand, indem Sie sich zum Beispiel vor es hinstellen, sodass es nicht alleine über die Strasse läuft. Gut möglich, dass es dann zu toben beginnt und Sie lernen müssen, angemessen auf das Toben zu reagieren.
Wenn Sie den Protest des Kindes einfach nicht beachten, ist das ein Machtmissbrauch, der sich sehr schnell rächt. Je nach seiner Persönlichkeit wird das Kind entweder übermässig wütend, was leicht in Hass auf die Eltern ausarten kann, oder es wird so traurig, dass es irgendwann resigniert. Den Protest müssen Sie also in jedem Fall ernst nehmen und sich fragen, wo der wirkliche Grund dafür liegt.
Weiterführende Themen
Übergeordnetes Thema
- Vertrauensbildung (erstes Phase der Erziehung)
- Willensbildung (zweite Phase der Erziehung)
Fragen und Feedback
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