Grenzen
Natürliche Grenzen können in der westlichen Zivilisation je länger, desto einfacher überwunden werden und die meisten natürlichen Gefahren bieten auch keine Grenzen mehr, da sie grösstenteils durch allerlei Sicherheitsvorkehrungen bereits gebannt sind. Kinder aber brauchen spätestens mit dem Beginn der Willensbildung Herausforderungen, um wachsen zu können. Als Eltern müssen Sie deshalb lernen, dem Kind beziehungsweise dessen überbordenden Willen auch Grenzen zu setzen. Es geht dabei um das zweite Grundprinzip der Erziehung, oder anders gesagt: um das "Nein!", während Sie in der Phase zuvor, der Vertrauensbildung, lernen mussten, dem Kind zu vertrauen, also "Ja" zu sagen.
Schwangerschaft und Geburt
Ein Kind ist bis zur Geburt völlig grenzenlos, denn es war neun Monate lang ein und alles mit seiner Mutter. Näher als Mutter und Kind können sich Menschen nicht sein, denn das Ungeborene ist von der Mutter vollkommen umschlossen.
Doch schon die Geburt ist eine einzige Grenzerfahrung. Wenn das Kind den Körper der Mutter verlässt, durchstösst es nicht nur die Grenze der Mutter selbst, sondern es schafft damit erst überhaupt eine Grenze. Ganz abgesehen davon ist der Geburtsvorgang schon allein aufgrund der Risiken, der Schmerzen der Mutter und den Ängsten des Kindes eine absolute Grenzerfahrung. Man spricht denn auch von einem eigentlichen Geburtstrauma. Wichtig für die Erziehung ist in diesem Zusammenhang, dass das Kind bereits Grenzen erfahren hat und Sie als Eltern schon allein deshalb darauf vertrauen dürfen, dass es auch mit den Grenzen, die Sie ihm später setzen müssen, umgehen kann!
Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)
In den beiden ersten Lebensjahren, also noch vor der Willensbildung, geht es in der Erziehung fast ausschliesslich um die Vertrauensbildung. Grenzen sind in dieser Zeit bloss ausnahmsweise ein Thema. In dieser Zeit dürfen Sie nicht nur, sondern sollen Sie dem Kind möglichst zu allem und immer "Ja" sagen. Denn das Kind kommt zunächst ausschliesslich mit Grundbedürfnissen zur Welt, es kennt weder Wünsche noch Absichten. Sein Wille ist beschränkt sich noch auf den Lebenswillen: Es will bloss leben und von seinen Eltern angenommen und beachtet werden.
Trotzdem gibt es bereits in dieser Phase gewissermassen ein paar Übungsfelder für Grenzen, sodass Sie sich als Eltern schon einmal darauf vorbereiten können, was in der nächsten Phase auf Sie zukommt:
- Grenzen der Eltern: Ein Kind in den beiden ersten Jahren nimmt seine Eltern vollständig und fortwährend in Anspruch. Selbst wenn es schläft, müssen Sie immer noch gewissermassen "auf Pikett" sein. Hinzu kommt die in unserer westlichen Zivilisation fehlende Sippe, in der es selbstverständlich wäre, dass alle ihre Mitglieder die Eltern bei der Kinderbetreuung entlasten. In einer Kleinfamilie, womöglich noch isoliert in einer Wohnung, müssen Sie sich deshalb anders organisieren, ansonsten Sie mit der Kinderbetreuung sehr schnell überfordert sind. Überlegen Sie sich also unbedingt schon vor der Geburt, ob die Grosseltern mithelfen können oder ob Sie eine Wohnung in einer familienfreundlichen Umgebung bevorzugen, wo Sie Gleichgesinnte finden und sich gegenseitig unterstützen können.
- "Kleine Autonomiephase": In der Regel noch vor der eigentlichen Willensbildung beginnt das Kind zu sprechen und zu laufen. Damit vergrössert es seinen Aktionsradius auf einen Schlag wesentlich: Es kann nun mitteilen, was es braucht und es kann dorthin gehen, wo es Lust hat. Schon aus Sicherheitsgründen werden Sie das Kind aber nicht überall hinlassen können, das heisst Sie müssen ihm Grenzen setzen.
Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)
Mit der Phase der Willensbildung, also in der Regel ab etwa dem dritten Lebensjahr, werden Herausforderungen und Grenzen mit einem Schlag zum weitaus wichtigsten Thema der Erziehung. Denn wenn das Kind, in der Regel ziemlich überraschend aber umso heftiger, seinen Willen zu entwickeln beginnt, wird es von einer äusserst mächtigen Kraft geradezu übermannt. Diese Kraft ist nicht nur eine wortwörtlich gewaltige, sondern eine der wertvollsten Kräfte des Menschen überhaupt, denn: "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg." Jedenfalls dann, wenn das Kind lernen konnte, seinen Willen auch geschickt einzusetzen.
Herausforderungen
Der Entdeckungs- und Eroberungsdrang von Kindern in dieser Phase ist immens. Sie brauchen deshalb genügend Herausforderungen, um ihren Willen einsetzen und formen zu können. Muten Sie Ihrem Kind grundsätzlich alles zu, was es unternehmen will: Gehen Sie mit ihm in die freie Natur, wo es klettern kann, erlauben Sie ihm die schweren Einkaufstüten nach Hause zu tragen oder lassen Sie sich auf eine Rauferei ein. Gerade der Alltag bietet genügend Möglichkeiten, von denen Sie und Ihr Kind gleich mehrfach profitieren können. Denn solche Erlebnisse festigen die Beziehung und zeigen dem Kind ganz nebenbei, wo seine Grenzen sind. Und je mehr Sie das Kind schon in diesem Alter "mithelfen" lassen, desto eher ist es auch später bereit, Sie im Haushalt wirklich zu unterstützen!
Die westliche Zivilisation bringt jede Menge an Annehmlichkeiten mit sich, doch verschwinden damit im gleichen Ausmass die Herausforderungen, die dann gerade Kindern in dieser Phase fehlen. So macht es zum Beispiel erst der übliche Überfluss an Lebensmitteln überhaupt möglich, dass Kinder wählerisch werden können, während es in früheren Zeiten noch eine grosse Herausforderung war, schon nur genügend Nahrung beschaffen zu können. Die Grenzenlosigkeit des Angebots kann so fatalerweise gerade für Eltern zu einer neuen Herausforderung werden, weil sie Kindern auch dort Grenzen setzen müssen, wo diese vom Angebot her gesehen eigentlich gar nicht gefordert wären!
Der Wille des Kindes
Wenn ein Kind zum ersten Mal "Ich will" sagt (oder "Nein!" - was im Prinzip das Gleiche ist!), gilt diese Aussage ganz grundsätzlich: Das Kind ist weder fähig noch bereit, irgendwelche Kompromisse einzugehen. Ganz im Gegenteil: Sein Einsatz für das, was es will, ist in der Regel fundamental und absolut. Die Ausdauer, die der Wille dem Kind verleiht, ist nahezu unendlich und für viele Eltern im ersten Moment ein Schock. "Vernünftiges" Zureden und Erklären helfen rein gar nichts, ja wirken ganz im Gegenteil sogar noch kontraproduktiv. Als Eltern müssen Sie sich zunächst bewusst werden, dass dieses Verhalten des Kindes ein Zeichen seiner gesunden Entwicklung ist! Sodann gilt es angemessen zu reagieren: Wenn Sie mit dem, was das Kind will, nicht einverstanden sind, müssen Sie klipp und klar "Nein!" sagen - und zwar genau einmal, dafür laut und deutlich. Schauen Sie dem Kind mit Ihrer ganzen Überzeugung und so lange in die Augen, bis Sie sicher sind, dass es verstanden hat. Dabei werden Sie auch den einen oder anderen "Tobsuchtsanfall" durchstehen müssen. Entscheidend ist dabei, dass Sie standhaft bleiben, und zwar gleich in zweierlei Hinsicht: Erstens müssen Sie konsequent bei Ihrer Haltung bleiben und sich nicht etwa verunsichern lassen. Und zweitens müssen Sie bei Ihrem Kind bleiben, denn es braucht Sie in diesem Moment ganz besonders. Das Kind muss sich nämlich auf Ihre Haltung verlassen können und will auch geliebt werden, wenn es mit seinem Willen anstösst! Liebesentzug, etwa in Form von Ignorieren oder Weglaufen, würde das Kind als Strafe empfinden. Und es wäre nicht bloss eine kontraproduktive Strafe, sondern auch noch eine höchst ungerechte, denn das Kind hat nicht etwa etwas falsch gemacht, sondern ganz im Gegenteil: Es hat damit begonnen, nach dem Selbstvertrauen das wichtigste für sein Leben zu entwickeln, nämlich seinen Willen! Dieser Wille aber wird es nur in dem Masse zu einem freien Willen kultivieren können, wie ihm die Eltern auch Grenzen setzen und nach einem allfälligen Tobsuchtsanfall bereit sind, sich mit ihm wieder zu versöhnen.
Das "Nein!" des Kindes
Wenn hingegen das Kind "Nein!" sagt, müssen Sie das grundsätzlich genauso respektieren, wie Sie es umgekehrt von ihm erwarten. In diesem Fall müssen Sie sich aber überlegen, welches die Konsequenzen sind. Wenn das Kind zum Beispiel etwas nicht essen will, ist das völlig in Ordnung, denn zwingen dürfen Sie das Kind keinesfalls. Das ist erstens nicht nötig und wäre zweitens auch völlig kontraproduktiv. Die Frage ist aber, ob Sie dem Kind einfach so lange Alternativen anbieten, bis es hat, was es will (und dann womöglich immer noch nicht zufrieden ist!) oder ob Sie sagen, dann soll es eben auf das Essen verzichten, zumal es sich ja um eine Art Luxusproblem handelt: Wenn das Kind Hunger hätte, würde es sich auf alles freuen, was es zu essen gibt. Allein der Überfluss in unserer westlichen Zivilisation macht es möglich, wählerisch zu sein.
Respektieren Sie das "Nein" des Kindes auch dann, wenn es aus Ihrer Sicht unvernünftig ist (ausser natürlich, es drohen wirkliche Gefahren): Wenn das Kind zum Beispiel noch nicht schlafen gehen will, sollten Sie warten, bis es bereit dazu ist, denn es weiss besser als Sie, wann es genügend müde ist! Das bedeutet aber nicht etwa, dass Sie das Kind die ganze Nacht lang unterhalten sollen, ganz im Gegenteil: Sie sollen bloss das "Nein" akzeptieren und warten, denn Kinder gehen von sich aus schlafen, wenn sie müde sind! Wenn Sie das Kind hingegen zum Schlafengehen zwingen, wird es bloss wütend und kann in der Folge noch weniger schlafen, sodass der Teufelskreis perfekt wird.
"Härte"
Grenzen setzen ist keine einfache Sache, zumal Eltern heutzutage immer noch häufig zu einer Gegenreaktion auf die früher allzu autoritäre Erziehung tendieren. Gerade Väter, die archetypisch eigentlich primär für Grenzen zuständig sind,können sich dadurch verunsichert fühlen. Wenn Sie sich fragen, ob Sie "zu hart" oder "zu weich" sind, dann sollten Sie die Frage anders stellen, denn es geht nicht um Härte, sondern um folgendes:
- Kinder brauchen Grenzen: Grenzen sind für Kinder auch Leitplanken, ohne die sie den Halt verlieren würden. Gerade in der Phase der Willensbildung gewinnt ein Kind schnell den Eindruck, es könne spielend Berge versetzen, zum Mond fliegen oder sein jüngeres Geschwister nach Belieben umher dirigieren. Das ist völlig normal. Schwierig wird es aber, wenn die Eltern derartige Allmachtsphantasien womöglich noch fördern, indem sie die Vorstellungen des Kindes zum Beispiel mit Fantasy-Artikeln oder Kriegsspielzeug weiter anstacheln, statt es auch mal wieder auf den Boden der Realität zurückzuholen.
- Kinder brauchen Verlässlichkeit: Ihr Kind muss wissen, woran es ist, ansonsten es verunsichert wird, was seinem Selbstvertrauen nicht förderlich wäre. Es ist deshalb weniger wichtig, welche Regeln Sie aufstellen, denn dass Sie die einmal aufgestellten auch konsequent anwenden. Blosse Drohungen sind nicht nur wirkungslos, sondern geradezu kontraproduktiv. Sorgen Sie sich also nicht, wenn Sie mal den Eindruck haben, Sie seien "zu streng" gewesen. Sorgen sollten Sie sich viel mehr, wenn Sie inkonsequent reagieren, das heisst von Ihrer Haltung, auf die sich das Kind verlässt, abweichen.
- Grenzen trennen nicht nur, sie verbinden auch: Das ist offensichtlich, wenn Sie sich zwei benachbarte Ländern vorstellen. Es gilt aber auch im übertragenen Sinn: Wenn Sie jemandem eine klare Grenze setzen, spürt Ihr Gegenüber Ihren Willen und es kann ein Kontakt entstehen. Währenddem Ignorieren keinen Kontakt bewirkt. Deshalb sind Grenzen für die Beziehungsfähigkeit ebenso grundlegend und unabdingbar wie Vertrauen.
- Auch Mütter müssen Grenzen setzen: Es ist ein sich hartnäckig haltender Irrtum zu glauben, dass der Mutter immer nur die Rolle der Verständnisvollen zukommt und sie deshalb vor der Aufgabe, Grenzen zu setzen, befreit wäre! Auch wenn die Rollenverteilung archetypisch für die Mutter das Thema Vertrauen vorsieht und für den Vater das Thema Grenzen, geht es eben bloss um Archetypen. Das heisst, die eine kommt höchstens vor dem anderen, ist deswegen aber nicht wichtiger als der andere - und umgekehrt! Gerade wenn es um die Gleichberechtigung der Geschlechter geht, kann nicht genügend betont werden, dass auch Frauen "Nein!" sagen müssen.
Das richtige Mass an Grenzen ist häufig ein Drahtseilakt. Dabei geht es aber weniger darum, ob Sie zu "hart" oder zu "weich" sind, als vielmehr darum ob Sie genügend konsequent sind. Sie erinnern sich da vermutlich noch an Ihre Schulzeit: Dort gibt es regelmässig Lehrer mit dem Attribut "hart, aber gerecht". Die Schüler empfinden solche Personen zwar als "streng", sie wissen aber immer ganz genau woran sie sind, was geht und was nicht. Diese Haltung brauchen Kinder auch von ihren Eltern in der Autonomiephase. In der westlichen Zivilisation ist die Angst vor einem allzu autoritären Erziehungsstil, wie er noch vor einigen Jahrzehnten gang und gäbe war, in der Regel nicht mehr begründet. Die Gefahr vor dem anderen Extrem, also einem zu laschen Erziehungsstil, ist heutzutage sehr viel grösser. Trotzdem: Übermässig harte Grenzen sind für die Willensbildung genau so kontraproduktiv wie inkonsequente Grenzen.
Sozialisation bis Pubertät (etwa 4 bis 16 Jahre)
Wenn das Kind in die (Vor)Schule kommt, sollte es so reif sein, dass es einerseits genügend Selbstvertrauen hat, um auch ausserhalb der Familie bestehen zu können und andererseits Grenzen seiner Umwelt respektieren kann. Das heisst zwar noch nicht, dass es möglicherweise trotzdem immer wieder am Ausloten der Grenzen ist - und diese demzufolge auch immer wieder mal überschreitet. Es bedeutet lediglich, dass das Kind, wenn es zum Beispiel von der Lehrerin zur Ruhe im Unterricht aufgefordert wird, kooperiert (und nicht wie ein Kleinkind zu toben beginnt).
Ein Kind, das sich entwickelt und lernt, muss schon alleine deshalb laufend über seine Grenzen hinaus gehen. Das gilt ist recht, wenn Jugendliche in der Pubertät beginnen, "die Hörner abzustossen". Entscheidend ist jedoch, ob sie fähig sind, aus Grenzüberschreitungen zu lernen, das heisst über das eigene Verhalten reflektieren können. Die Basis für diese Fähigkeit muss ihnen bereits in den ersten vier Jahren von den Eltern beigebracht werden. Wenn das Kind bis dahin keine Grenzen zu spüren bekam, wird es diese später umso heftiger zu spüren bekommen, sei es dass es als Störenfried negativ auffällt, sei es dass es sich in unnötige Gefahren begibt und sich ernsthaft verletzt. Im schlimmsten Fall werden Jugendliche erst durch die Polizei gestoppt und müssen dann womöglich "nacherzogen" werden.
Die eigentliche Erziehungsarbeit sollte in dieser Phase des Kinde bereits erledigt sein. Ein genügend reifes Kind kann schon ab dem Vorschulalter selbst lernen, was es für sein Leben braucht. Die Eltern können sich daher mehr und mehr auf eine Art Begleitung beschränken. Die Reife des Kindes können Sie zum Beispiel daran erkennen, dass Ihr Kind Sie von sich aus fragt, weshalb in der Schule diese oder jene Regel gilt: Das Kind erkennt Grenzen.
Das beste Übungsfeld für Grenzen in der Jugend ist Sport (oder andere körperliche Aktivitäten, möglichst in freier Natur). Und zwar gleich in zweierlei Hinsicht:
- Leistungsgrenzen: Die zunehmende körperliche Kraft von Jugendlichen sucht nach Herausforderungen - und das ist gut so! Im Sport können Jugendlich grundsätzlich so weit gehen wie sie Lust haben. Und wenn Sie als Eltern Ihre Kinder in den ersten vier Jahren Grenzen haben spüren lassen, brauchen Sie sich auch nicht vor übermässigen Risiken zu fürchten.
- Spielregeln: Dies gilt umso mehr, als der Sport strikte Regeln hat, die einzuhalten sind, ansonsten der Spieler gleich unmittelbar mit entsprechenden Nachteilen bedacht wird. Die Kombination von Herausforderung bei gleichzeitiger Massregelung durch Regeln von Seiten eines Schiedsrichters ist eine hervorragende Art und Weise einen freien Willen zu entwickeln. Denn rohe Kraft allein genügt, es geht auch darum, auf die Mitspieler Rücksicht zu nehmen und Entscheide zu respektieren.
Viele Kinder erhalten erst im Rahmen von sportlicher Betätigung Grenzen gesetzt. Das ist zwar besser als gar nichts, doch ist zu bedenken, dass es sich dabei bereits um eine Art "Nacherziehung" handelt (für die Trainer und Schiedsrichter eigentlich nicht zuständig sind und demzufolge die Verantwortung dafür häufig auch zu Recht ablehnen!). Zudem besteht gerade bei Kindern, die Grenzen noch zu wenig respektieren können, umgekehrt in genau gleichem Masse die Gefahr, dass sie sich selbst verletzen oder missbraucht werden, da sie ihre eigenen Grenzen nicht genügend schützen können. Denn fremde Grenzen respektieren und eigene Grenzen schützen bedingen sich gegenseitig!
Erwachsenwerden (etwa 16 bis 25 Jahre)
Ist die Pubertät vorüber und vielleicht auch die Grundausbildung schon abgeschlossen, melden Jugendliche regelmässig ihre Ansprüche im Sinne einer Gleichstellung mit den Eltern an. Sie wollen zum Beispiel mitbestimmen, welche Lebensmittel eingekauft werden, welches die beste Wahl des Transportmittels ist und ähnliches. Das ist an sich richtig, bloss besteht ein gewisses Ungleichgewicht: Wohl wären sie aufgrund ihrer geistigen Entwicklung zu dieser Mitbestimmung fähig, doch sind sie wirtschaftlich meistens noch von den Eltern abhängig. Trotzdem sollten nun Eltern wie Kinder zu einem partnerschaftlichen Zusammenleben fähig sein. Dies setzt voraus, dass Sie als Eltern anerkennen, dass Ihr Kinder zwar noch nicht oder nur sehr beschränkt zum Haushalt beisteuern können, dafür aber zum Beispiel neue, fortschrittliche Ideen zu einem umweltbewussten Leben einbringen können. Zumindest sollten Sie nicht einfach nach dem Motto "Wer zahlt, befiehlt." handeln, ansonsten auch Ihre Kinder sich überlegen werden, wie sie ihre Macht ausspielen könnten.
Eine ganz besondere Herausforderung können die Freundin oder der Freund Ihres Sohnes beziehungsweise Ihrer Tochter darstellen, insbesondere wenn diese in Ihrer Wohnung zu übernachten beginnen. Natürlich hängt dabei viel von Ihrer Toleranz ab, wenn es zum Beispiel darum geht, wer, wann und wie lange das Badezimmer besetzt. Wichtig ist aber, dass Sie unterscheiden, ob es mehr um Ihre Sympathie (oder eben Antipathie) oder um Ihren eigenen Grenzen geht. Wenn es Sie also zum Beispiel stört, dass Ihr potentieller Schwiegersohn mit schmutzigen Kleidern daherkommt: Stört es Sie, weil Sie der Meinung sind, Ihre Tochter hätte einen "anständigen" Mann verdient oder stört es Sie, weil Sie Ihr Sofa sauber halten möchten? Während Sie sich im ersteren Fall zurückhalten sollten (zumal Bemerkungen Ihrerseits vor allem entsprechende Gegenreaktionen auslösen dürften), dürfen und sollen Sie im letzteren Fall natürlich reagieren. Es geht hier auch nicht darum, Fremde zu erziehen, sondern bewusst eine Grenze zu setzen. Das ist im übrigen nicht etwa unhöflich, sondern ganz im Gegenteil Ausdruck Ihrer Beziehungsfähigkeit. Und vielleicht ergibt sich daraus sogar eine interessante Diskussion über Sinn und Unsinn von Sauberkeit.
Die letzte Grenze, die der junge Erwachsene schliesslich zu durchstossen hat, ist die des trauten, elterlichen Heims, wenn er auszieht. Wenn das Kind von Anfang zur Selbständigkeit erzogen wurde, stellt dieser letzte Schritt überhaupt kein Problem dar. Problematisch kann es dann werden, wenn während der Erziehung eine Abhängigkeit geschaffen wurde. Das kann bewusst oder - wie meistens - unbewusst geschehen.
Grenzen des Kindes
Grenzen haben immer zwei Seiten. Als Eltern müssen Sie deshalb nicht nur lernen, dem Kind Grenzen zu setzen, sondern auch noch lernen, die Grenzen des Kindes zur erkennen und ebenfalls zu respektieren. Das gilt zudem nicht nur trotz der anfänglichen Hilflosigkeit des Kindes, sondern vielmehr gerade wegen dieses Ausgeliefertseins: Die Verantwortung liegt bei Ihnen als Eltern, denn ein Kleinkind kann seine Grenzen noch nicht schützen.
Das Kleinkind kann anfänglich bloss durch Mimik und Gestik "Nein!" sagen. Wenn es zum Beispiel um das Gestillt werden oder das Essen geht, ist das noch einfach zu erkennen. Schwieriger kann es aber werden, wenn es zum Beispiel um Liebkosungen geht oder darum, ob Sie ihm dem Kind helfen sollen oder besser noch warten, bis es selbst nach Hilfe "fragt". Wenn Sie später dem Kind Grenzen setzen müssen, ist es von grösster Hilfe, wenn Sie Ihrerseits schon geübt sind, Grenzen des Kindes zu erkennen und zu respektieren. Denn das schafft das nötige Vertrauen zwischen Ihnen und dem Kind und somit die Grundlage, dass das Kind seinerseits überhaupt erst lernen kann, Grenzen zu respektieren. Wenn Sie hingegen die Grenzen des Kindes immer wieder überschreiten, wird es sein Vertrauen in Sie verlieren und entsprechend Mühe damit haben, wenn es plötzlich Ihre Grenzen einhalten soll. Denn es hat Sie natürlich bereits zum "Vorbild" genommen!
Freier Wille als Ziel der Erziehung
Ziel der Erziehung sollten Selbständigkeit und Beziehungsfähigkeit sein. Dazu braucht es ein gesundes Selbstvertrauen und einen freien Willen. Während für das Selbstvertrauen des Kindes das Vertrauen seiner Eltern massgebend ist, sind für einen freien Willen des Kindes entsprechende Grenzen der Eltern nötig.
Ein freier Wille bedeutet, dass ein Mensch seine Fähigkeiten voll entwickeln und nutzen kann, und zwar nicht nur zu seinem eigenen Wohlergehen, sondern auch zum Nutzen seiner Umwelt. Dazu muss der Wille zuerst ausgebildet werden, denn die ursprüngliche Kraft ist noch sehr roh und vor allem auch sehr egozentrisch. Das Kind, in dem der Wille gerade erwacht ist, will sich durchsetzen, ohne irgendwelche Rücksicht auf andere, ganz einfach um seiner selbst willen. Dem muss etwas entgegen gehalten werden, sodass das Kind eine Herausforderung spürt, auf die es zu reagieren lernen muss. Wenn das Kind zum Beispiel Feuer machen will, muss es auch Holz sammeln. Es genügt nicht, einfach zu warten, bis es nur noch anzuzünden braucht. Nur so lernt es, dass sich alle - und ein jeder nach seinen individuellen Kräften - am Erfolg beteiligen müssen.
Das grösste Talent, die besten Gene und alle Bildung nützen nichts, wenn der Mensch am Ende nicht motiviert ist, dieses ganze Potential sinnvoll zu nutzen. Als Eltern können Sie in den ersten vier Lebensjahren des Kindes die Grundlagen dafür schaffen dass die Freude des Kindes an seiner Kreativität erhalten bleibt und es diese in Beziehungen einbringen und zu etwas noch Grösserem bringen kann. Wenn also das Kind seinen Willen zu entwickeln beginnt, ist das nicht etwa eine böswillige Trotzreaktion, die Sie bekämpfen oder einfach erdulden müssten, sondern Sie sollten erkennen, dass es um die wertvollste Kraft des Menschen überhaupt geht - diese aber noch ausgebildet werden muss, indem Sie dem Kind konsequent Grenzen setzen.
Folgen mangelnder Grenzen
Wenn dem Willen des Kindes keine oder zu wenig konsequent Grenzen gesetzt werden, kann sich das gleich in zwei Richtungen negativ auswirken:
- Willensschwäche: Der Wille dient insbesondere dazu, Herausforderungen des Lebens meistern zu können. Wenn dem Kind Dinge abgenommen werden, die es eigentlich selbst bewältigen könnte, wird es sehr schnell bequem und sein Wille erlahmt, da er ja kaum benötigt wird. Denn diese Kraft verhält sich nicht anders als ein Muskel, der auch nur dann fit bleibt, wenn er gebraucht wird.
- Respektlosigkeit: Nun ist es aber nicht so, dass sich diese Willenskraft einfach damit abfinden würde, dass sie gar nicht gebraucht wird. Ganz im Gegenteil: gewissermassen als Ausgleich zur Unterforderung wird das Kind sich selbst und seine Umwelt mit waghalsigem oder rücksichtslosem Gebaren solange provozieren, bis es doch noch Grenzen zu spüren bekommt. Solche Grenzen können aber schnell sehr schmerzvoll sein, sei es, dass sich das Kind in seinem Übermut selbst verletzt, sei es, dass es von anderen gewaltsam daran erinnert wird, dass die Welt nicht ihm allein gehört. Respekt hat das Kind nicht einfach von Natur aus, sondern entwickelt es in dem Masse, wie ihm seine Eltern Grenzen setzen.
Die möglichen Folgen mangelnder Grenzen sind sehr mannigfaltig, so zum Beispiel (in alphabetischer Reihenfolge):
- Abhängigkeit
- Anspruchshaltung
- Bequemlichkeit
- Treten und Schlagen
- Schummeln und Lügen
- Klauen und Stehlen
- Hyperaktivität
- Konzentrationsschwäche
- Nerven
- Provozieren
- Störenfried
- Mangelnde Frustrationstoleranz
Fatal ist schliesslich, dass sich die meisten dieser Folgen erst nach den vier ersten, alles entscheidenden Jahren des Kindes so richtig offenbaren. Wenn das Kind aber erst einmal in die (Vor)Schule geht, schwindet der Einfluss der Eltern rapide und es bleibt häufig nur noch die Hoffnung, dass andere das nachholen, was die Eltern verpasst haben. Lehrer, Trainer und andere Autoritätspersonen fühlen sich aber zu Recht in erster Linie für die Ausbildung und nicht für die "Nacherziehung" verantwortlich, sodass das Kind zwischen Stuhl und Bank zu fallen droht!
Folgen übermässiger Grenzen
Nach der Überwindung des betont autoritären Erziehungsstils früherer Zeiten scheint die Gefahr zu harter Grenzen in der westlichen Zivilisation zwar nicht mehr allzu gross. Der Wille eines Kindes kann aber auch auf eher subtile Art gebrochen werden. Das beginnt schon beim Kleinkind, wenn dessen Grundbedürfnisse missachtet werden. Wenn Sie zum Beispiel zu früh einen viel zu rigiden Schlafrhythmus erzwingen wollen, ist das zwar auch eine Grenze, aber eine, die das Kind in diesem Alter noch gar nicht einhalten kann (es will und muss schlafen, wenn es müde ist und umgekehrt). Solche Zwänge sind höchst kontraproduktiv und rächen sich sehr schnell.
Mit der Willensbildung greifen Eltern in ihrer Verzweiflung aber auch immer wieder zu brachialeren Methoden. Das beginnt mit Drohungen, Wegsperren, geht über zu Verboten, verbunden mit Strafen bis zu (Zurück)Schlagen. Dabei geht es nicht mehr bloss um harte Grenzen, sondern um eigentliche Grenzüberschreitungen. Darauf reagieren Kinder unterschiedlich. Jüngere Kindern bleibt häufig bloss der Rückzug übrig. Je älter Kinder aber werden, desto mehr werden sie sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu wehren beginnen. Einige Beispiele möglicher Reaktionen (in alphabetischer Reihenfolge):
- Ängstlichkeit
- Duckmäuser
- Ehrgeiz
- Fantasielosigkeit
- Gewalttätigkeit
- Jähzorn
- Missbrauch
- Rachsucht
- Resignation
- Schüchternheit
- Totalverweigerung
Grenzen setzen darf also nicht verwechselt werden mit Willen brechen. Der Wille eines Kindes kann in den ersten Jahren schon allein aufgrund der körperlichen Unterlegenheit sehr einfach gebrochen werden und Eltern glauben dann, sie hätten ihre Aufgabe gelöst, da das Kind zunächst einmal ruhig gestellt ist. Es hat aber bloss resigniert. Je nach Persönlichkeit wird es in dieser Resignation verharren (was später häufig Auslöser für Depressionen ist) oder es wird auf den Moment warten, da es sich aus der elterlichen Umklammerung lösen kann und sich an den Eltern rächen oder ganz einfach vor ihnen fliehen.
Weiterführende Themen
- Herausforderungen
- Freier Wille
- Willensbildung
- Grenzen der Eltern
- Grenzen des Kindes
- Grenzüberschreitungen der Eltern
- Grenzüberschreitungen des Kindes
- Grenzenlosigkeit
Übergeordnetes Thema
Willensbildung (zweite Phase der Erziehung)
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