Wut des Kindes

Aus 2 x 2 der Erziehung
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Wut ist, nebst Freude, Angst und Trauer, eines der vier Grundgefühle, das heisst ein elementares, reines und von Geburt an vorhandenes Gefühl. Kinder werden vor allem dann wütend, wenn sich jemand oder etwas ihrem Willen entgegenstellt. Das ist grundsätzlich ein Zeichen ihrer gesunden Entwicklung. Entscheidend ist einzig, wie die Eltern darauf reagieren.

Wut ist ein ebenso wichtiges Gefühl wie alle anderen: es geht um eine Botschaft, die der Mensch wahrnehmen soll. Wut zeigt dem Menschen, dass er sich gerade für etwas Wichtiges einsetzen sollte oder etwas ändern sollte. Nimmt der Mensch Wut wahr und weiss zugleich, was das Wichtige ist, für das er sich einsetzen soll, entwickelt er Gespür. Und Gespür ist für das Handeln und Entscheiden ebenso wichtig wie der Verstand!

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Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Wut und Lebenswille

Während der Phase der Vertrauensbildung, also noch bevor das Kind seinen eigentlichen Willen zu entwickeln beginnt, hat das Kind bereits einen Lebenswillen, der auf sein nacktes Überleben ausgerichtet ist. In dieser Zeit hat das Kind ausschliesslich Grundbedürfnisse, also solche, die von den Eltern möglichst immer und sofort befriedigt werden sollten (im Gegensatz zum Beispiel zu Wünschen, deren Erfüllung auch warten kann, die es aber erst später entwickelt). Wird einem schreienden Kind nicht sofort geholfen, kann es schnell wütend werden. Es zeigt damit, dass ihm etwas Elementares fehlt, sei es Nahrung, sei es gehalten werden. Kinder kommen mit dem vollkommen Vertrauen in die Welt, dass ihre Eltern ihnen immer und sofort helfen, wenn sie danach verlangen. Dieses Vertrauen muss gewissermassen von den Eltern bestätigt werden, indem Sie dem Kind Ihrerseits vertrauen, dass es in dieser Phase ausschliesslich Grundbedürfnisse hat. Es will Sie also weder manipulieren noch hat es sonst eine schlechte Absicht. Nur wenn das Kind in seinem Vertrauen in das Leben bestätigt wird, kann es entsprechendes Selbstvertrauen entwickeln.

Einem wütenden Kleinkind fehlt also immer etwas elementar Wichtiges für sein Leben. Es liegt an Ihnen herausfinden, um was es geht, indem Sie es immer wieder fragen und je länger je mehr ein Gespür entwickeln. Keinesfalls dürfen Sie das wütende Kind allein lassen, es braucht vielmehr Ihren bedingungslosen Trost. Trost aber hilft immer, selbst dann, wenn Sie nicht herausfinden können, wo das Leid liegt!

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Wut und Selbständigkeit

Kinder können sehr wütend reagieren, wenn ihnen geholfen wird, obwohl sie gar keine Hilfe verlangten. Unverlangte Hilfeleistung ist immer ein Zeichen mangelnden Vertrauens in die Fähigkeiten. Sie sollten sich deshalb bewusst zurückhalten und warten, bis das Kind von sich aus nach Hilfe fragt. Denn das Ziel der Erziehung ist nicht Abhängigkeit, sondern Selbständigkeit!

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Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Wenn das Kind beginnt, seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, übersteigt diese Kraft bei weitem das, was es zum nackten Überleben braucht. Es will nun etwas bewirken und sich entfalten. Und es spürt auf einmal, was es alles erreichen kann, wenn es bloss will. Dabei wird es anfangs immer "auf's Ganze" gehen, kompromisslos und ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn das Kind zum Beispiel die Banane will, wird es diese mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung steht, halten und gegen jeden Angriff oder wohl gemeinten Rat verteidigen. Wenn Sie sich dem entgegenstellen, wird es mit grosser Wahrscheinlichkeit wütend. Das ist ein Zeichen seiner gesunden Entwicklung: Mit Wut zeigt das Kind, was ihm wichtig ist, für was es bereit ist, sich voll und ganz einzusetzen. Als Eltern müssen Sie lernen, dieses wichtige Gefühl des Kindes ernst zu nehmen und angemessen darauf zu reagieren:

Wut und Wille

Zwischen dem Gefühl der Wut und dem Willen besteht eine enge Verbindung. Wenn der Mensch mit seinem Willen auf Widerstand stösst und dadurch wütend wird, kann das seine Kräfte erst recht mobilisieren. Das kann durchaus in konstruktiver Absicht geschehen. Man kennt solches Verhalten zum Beispiel im Fall von Bedrohungen oder Herausforderungen, denen man sich mit normalen Kräften kaum gewaschen sieht. Menschen können dann sprichwörtlich “mit der Wut im Bauch" über sich hinauswachsen und Dinge leisten, zu denen sie unter normalen Umständen nicht fähig wären.

Bei Kindern in der Phase der Willensbildung spricht man dann gerne von Wut- oder Tobsuchtsanfällen. Als Eltern müssen Sie zunächst lernen, angemessen auf das Toben zu reagieren. Denn in solche Momente helfen weder wohl gemeinte Erklärungen, noch Beschwichtigungen oder gar Schreien. Als Eltern müssen Sie einzig ruhig beim Kind bleiben und warten, bis es vorbei ist. Gerade in solchen Momenten ist es wichtig, dass Sie Ihr Kind nicht verlassen, sondern ihm beistehen (allerdings ohne es zu halten, da es das in der Regel vehement ablehnen wird). Erst wenn sich das Kind ganz von alleine beruhigt hat, können Sie wieder in Kontakt zu ihm treten und ihm zum Beispiel anbieten, es in die Arme zu nehmen. Das Kind muss sich nun versöhnen können. Und erst wenn Sie sicher sind, dass sich das Kind versöhnen konnte, können Sie endlich mit ihm besprechen, was denn passiert ist. Fragen Sie es zum Beispiel, ob es wütend war, oder sagen Sie ihm, wie es Ihnen ging, als es den Teller vor lauter Wut, weil es ihn nicht halten durfte, in Brüche schlug. So kann das Kind einerseits erfahren, dass es zwar wütend sein darf und trotzdem geliebt wird, dass es aber andererseits auch Ihre Grenzen berücksichtigen muss. Sie können dann mit ihm zusammen zum Beispiel eine Regel vereinbaren, wann und unter welchen Umständen es den Teller von der Küche ins Esszimmer tragen darf beziehungsweise wann nicht, weil Ihnen das Risiko des Verschüttens zu gross ist. Und schon beim nächsten Mal können Sie sich darauf verlassen, dass das Kind zuerst fragt, bevor es den Teller einfach vom Küchentisch reisst. Vertrauen Sie der natürlichen Kooperationsbereitschaft des Kindes und Sie werden staunen, zu was es alles fähig ist!

Zu einem gesunden Willen gehört also auch Wut. Entscheidend ist aber, dass aus diesem Gefühl ein konstruktiver Antrieb wird. Dafür sind Sie als Eltern verantwortlich, indem Sie dem Kind auch Grenzen setzen und dabei konsequent bleiben. Umgekehrt müssen Sie aber auch das "Nein!" des Kindes respektieren.

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Wut und Motivation

Menschen, die über Ihre Situation wirklich wütend sind, brauchen nicht motiviert zu werden, etwas daran zu ändern. Die Wut alleine ist schon Antrieb genug, um initiativ zu werden. Während sich andere über ihr Schicksal beklagen und vor lauter Jammern handlungsunfähig werden, kann der Wütende gar nicht anders als handeln. Und wenn er bereits gelernt hat, mit dem Gefühl der Wut bewusst umzugehen, wird er auch konstruktiv handeln können.

Als Eltern müssen Sie deshalb aufmerksam sein, wenn Ihr Kind wütend ist. Wenn es zum Bespiel eine Schachtel öffnen will, ihm die nötige Geschicklichkeit fehlt und es deshalb wütend wird, sollten Sie es fragen, ob Sie ihm helfen sollen. Helfen Sie ihm aber nur so weit, wie es unbedingt nötig ist und prüfen Sie immer wieder, von wann an das Kind die Schachtel selbst weiteröffnen will. So erfährt es einen positiven Zusammenhang zwischen seinem Gefühl und dem damit verbundenen Erfolg.

Wenn Sie sich hingegen über das Kind lustig machen oder ihm die Schachtel einfach aus den Händen reissen und selbst öffnen, wird es sich in seiner Wut nich mehr angenommen fühlen und erlebt so einen negativen Zusammenhang. Wiederholen sich solche Situationen immer wieder, kann das zu einer verminderten Frustrationstoleranz führen. Das Gefühl der Wut wird dann mehr und mehr durch Ersatzgefühle wie Groll oder Zorn ersetzt. Solche Ersatzgefühle sind, da sie mit negativen Absichten vermischt sind, für die Entwicklung hinderlich und vor allem später in Beziehungen problematisch.

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Wut und Leidenschaft

Menschen, die ein klares Ziel vor Augen haben, das ihnen wichtig ist, sind auch bereit dafür zu leiden, zeigen also Leidenschaft. Sie nehmen beschwerliche Hindernisse oder persönliche Nachteile in Kauf, wenn sie dafür etwas Grösseres, zum Beispiel für die Gesellschaft Wichtiges, erreichen können. Diese Leidenschaft hat viel mit dem Gefühl der Wut zu tun. Wut gibt dem Menschen die Kraft, die Unbill des Lebens zu überwinden. Das kann zum Beispiel bei einer Fussballmannschaft beobachtet werden, die in einem Spiel von einem Fehlentscheid des Schiedsrichters oder einem groben Foul eines Gegenspielers benachteiligt ist: Spielte sie bisher vielleicht eher lustlos, entwickelt sie plötzlich eine überraschende Leidenschaft und kann das Spiel in eine ganz andere Richtung drehen.

Leidenschaft bedeutet aber nicht etwa, sich oder anderen Menschen absichtliches Leid zuzufügen, sondern eigenes Leid in Kauf zu nehmen, ganz unabhängig davon, was die Ursache ist. Diese Fähigkeit erwirbt das Kind schon sehr früh, nämlich dann, wenn es von seinen Eltern getröstet wird, und zwar unabhängig davon, was die Ursache für sein Leid ist. Wenn das Kind zum Beispiel mit dem Fahrrad über einem Randstein fährt, obwohl Sie ihm davon dringend abgeraten haben, und dabei und stürzt, muss es "trotzdem" getröstet werden. Denn Trost muss bedingungslos sein. So erfährt das Kind, dass es (zu) hohe Ambitionen haben darf, dabei leidvoll scheitern darf, aber immer noch geliebt wird. Es kann sich dann gewissermassen mit dem Randstein oder dem elterlichen Rat versöhnen.

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Wut und Mut

Schliesslich kann Wut dem Menschen auch Mut verschaffen, wenn zum Beispiel eine Gefahr droht, der man sich nur mit einem beherzten Schritt entziehen kann (das französische Wort "Courage" drückt dies sehr schön aus). Der Mensch muss sich dabei aber schon im Klaren sein, ob er Angst oder Wut verspürt. Während Angst ihn vor einer Handlung warnt, fordert Wut geradezu zum Handeln auf.

Für Sie als Eltern bedeutet das, dass Sie das Kind in heiklen Situationen immer zuerst fragen müssen, was es fühlt. Wenn es zum Beispiel beim Hochklettern irgendwo ansteht, können Sie es fragen, ob es Angst hat oder ob es sich zutraut, noch weiter zu gehen. Je nach seiner Antwort können Sie es dann ermuntern, wieder runterzukommen oder noch weiter zu gehen. Übergehen Sie niemals die Gefühle des Kindes, das würde sein von Natur aus vorhandenes Gespür beeinträchtigen und es in heiklen Situationen verunsichern.

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Ersatzgefühle

Wut wird von vielen Menschen irrtümlicherweise als ein "negatives" Gefühl betrachtet, obwohl Gefühle an sich völlig wertfrei sind, also weder positiv noch negativ. Das ist sehr kontraproduktiv, denn gerade dieses Missverständnis ist die Basis für eine ganze Reihe von Ersatzgefühlen, die tatsächlich sehr problematisch sind:

  • Zorn: Wenn Wut unterdrückt wird, ist die Gefahr gross, dass sie der Mensch nicht mehr als Gefühl wahrnimmt und er gerade dadurch in Form von Zorn beherrscht wird. Zorn ist aggressiv und destruktiv. Wenn Eltern die Wut des Kindes nicht als Gefühl beachten, sondern meinen, sie müssten mit Härte reagieren, wird das Gefühl unterdrückt. Gefühle können aber nicht einfach verdrängt oder gar zerstört werden. Sie können bloss verformt werden. Unterdrückte Wut kann dann plötzlich in Form von Zorn explodieren. Eine gesteigerte Form davon ist der Jähzorn.
  • Hass: Wenn die Unterdrückung der Wut noch mit einer Kränkung oder Verletzung verbunden ist, kann sie sich in Form von Hass auf den Täter ausdrücken. Die Ursache von Hass des Kindes auf seine Eltern liegt häufig in Missbrauch.
  • Ärger: Wenn das Gefühl der Wut verkümmert, äussert sich diese häufig als Ärger. Der Mensch fühlt sich zwar durch etwas oder jemanden genervt, doch nimmt er das eigentlich dahinter stehende Gefühl der Wut nicht mehr genügend wahr, um handeln zu können, er verfällt stattdessen der Passivität. Solches resignatives Verhalten hat die Ursache häufig in der Kindheit, insbesondre wenn die Wut des Kindes verharmlost oder beschwichtigt wird.
  • Groll: Groll ist eine eher versteckte Form von Hass oder Ärger. Die Ursache ist die gleiche, doch richtet sich der Groll nach innen. Das macht ihn zwar vielleicht für Dritte weniger gefährlich, doch zermürbt es den Menschen selbst dafür umso mehr. Ob das Kind unterdrückte oder verkümmert Wut eher nach aussen oder nach innen richtet, hängt vor allem von seiner Persönlichkeit ab.
  • Rachegelüste: Kinder sind sprichwörtlich auf Gedeih und Verderb auf ihre Eltern angewiesen. Zudem besteht bezüglich der Verantwortung eine Hierarchie. Dieses enorme Machtgefälle verlangt von den Eltern eine besondere Aufmerksamkeit. Die Gefahr ist gross, dass Eltern ihre Stellung - mehr oder weniger bewusst - missbrauchen, worauf das Kind mit Wut reagieren wird. Wenn die Eltern diese Wut dann auch noch bekämpfen, wird das Kind in seiner Hilflosigkeit mit grosser Wahrscheinlichkeit Rachegelüste entwickeln.
  • Trötzeln: Eltern, die mit der Wut des Kindes Mühe haben, scheuen sich davor, klar "Ja" oder "Nein!" zu sagen, sie versuchen so der Wut aus dem Weg zu gehen. Das Kind spürt dann keinen klaren Widerstand, aber auch keine wirkliche Zustimmung. So beginnt es gerne zu trötzeln, das heisst, dass es nun seinerseits weder voll in die Konfrontation geht noch wirklich aufgibt. Es ist vielmehr wie ein halb erloschenes Feuer, das immer wieder aufflackert. Die Eltern fühlen sich genervt und irgendwann "explodieren" sie und reagieren völlig unverhältnismässig. Spätestens dann sollten Eltern merken, dass eine klares und konsequentes "Nein!" eigentlich halb so schlimm gewesen wäre.

Wut ist also ein sehr wichtiges Gefühl und sollte ernst genommen werden, wie alle anderen Gefühle auch. Wut zeigt dem Menschen immer an, dass es um etwas Wichtiges oder um etwas Elementares geht, für das es sich lohnt, sich einzusetzen oder gar etwas zu riskieren.

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