Verlassen werden

Aus 2 x 2 der Erziehung
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Menschenkinder sind bei ihrer Geburt sprichwörtlich auf Gedeih und Verderb von ihren Eltern abhängig. Werden sie verlassen, hat das immer existenzielle Auswirkungen, insbesondere während den beiden ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung. Zudem sind in dieser Zeit sowohl der Grund als auch die Dauer zunächst unerheblich. Denn das Kind lebt noch voll und ganz im Hier und Jetzt und kann weder verstehen, warum es verlassen wird, noch dass es seine Eltern möglicherweise wieder sehen wird. Oder anders gesagt: Wenn Sie weg sind, existieren Sie für das Kind auch nicht mehr! Erst mit der Zeit und vor allem durch die wiederholte Erfahrung, dass Sie immer wieder zurückkommen, kann das Kind vertrauen und verstehen, dass es ein Wiedersehen gibt.

Während von Ihnen als Eltern also sehr viel Behutsamkeit gefordert ist, sollten Sie umgekehrt das Kind möglichst von Anfang an frei entscheiden lassen, ob es Ihre Nähe braucht oder nicht. Und womöglich werden schon bald Sie sich verlassen fühlen, wenn das Kind je länger desto selbständiger wird und schliesslich gar auszieht. So gesehen ist Trennung (und Wiedersehen) während der ganzen Erziehung beziehungsweise Begleitung ein eigentliches Hauptthema, das für die Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind prägend ist.

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Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Nähe und Distanz

Während der Phase der Vertrauensbildung braucht es nicht viel, bis sich das Kind verlassen fühlt. Grundsätzlich braucht es die ständige Anwesenheit seiner Eltern, oder zumindest einer Vertrauensperson, die es gewissermassen als Ersatzeltern annehmen kann. Das bedeutet aber nicht etwa, dass das Kind möglichst viel Nähe braucht, sondern dass Sie ihm immer gerade so viel Nähe geben, wie es verlangt und es loslassen, wenn es genug hat. Sie müssen also ein Gespür für Nähe und Distanz entwickeln. Die Bedürfnisse der Kinder sind diesbezüglich höchst unterschiedlich und können sich zudem ganz unterschiedlich entwickeln.

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Abschied und Widersehen

Gehen Sie mit dem Thema spielerisch um, indem Sie zum Beispiel mit dem Säugling und einem Tuch Verstecken spielen. Versuchen Sie immer weiter zu gehen und beobachten Sie, ob sich das Kind noch sicher fühlt, wenn Sie sich etwas länger versteckt halten. Wichtig sind Wiederholungen, sodass das Kind eine Regelmässigkeit im Kommen und Gehen erkennt. Denn Verlassen werden ist halb so schlimm, wenn man mit einem Wiedersehen rechnen kann! Der zweite wichtige Faktor, nebst der Regelmässigkeit, ist jener der Zeit: Jedes Kind hat seinen eigenen Rhythmus, in dem es lernt und sich entwickelt. Das ist vor allem entscheidend, wenn es um Fremdbetreuung geht: Lassen Sie dem Kind so viel Zeit, wie es braucht, bis es mit Ihrer Abwesenheit umgehen kann. Wenn Sie es anfangs überfordern, kann sich das sehr schnell rächen, indem das Kind gleich bei jeder, auch noch so kurzen, Trennung mit Verlustangst reagiert.

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Mangelnder Trost

Ebenso heikel wie das physische Verlassen kann das emotionale Verlassen sein. Vor allem wenn das Kind traurig ist oder Angst hat, braucht es Ihre Zuwendung in Form von Trost. Ignorieren Sie es in solchen Momenten, da es nach Ihnen verlangt, fühlt es sich verlassen. Das gilt auch, wenn Sie der Meinung sind, das Kind sei "selbst schuld" an seinem Unglück! Denn abgesehen davon, dass Kinder noch gar keine Schulden haben können, muss Trost immer bedingungslos sein. Fällt es zum Beispiel hin, nachdem Sie es erfolglos gewarnt haben, langsamer zu laufen, braucht es nicht etwa zuerst Ihre Belehrungen oder gar Vorwürfe, sondern eben wirklichen Trost, sofort und ohne "Wenn und Aber".

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Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Grenzen ausloten

Wenn das Kind beginnt seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, wird es von sich aus die Grenzen ausloten, wie weit es sich von seinen Eltern entfernen kann. Dabei kann es schon mal vorkommen, dass es sich in seinen Allmachtsphantasien überschätzt und den Weg zurück nicht mehr selbst findet. Zudem hat es immer noch die selbstverständliche Erwartung, dass Sie immer für es da sind, wenn es Sie braucht. Ihre Aufgabe, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann es wie viel Abwesenheit erträgt, bleibt also. Das Kind entwickelt aber nun mehr und mehr ein Gefühl für Zeit, Sie können ihm zum Beispiel am Morgen, wenn Sie es in die KITA bringen, sagen, dass Sie vor dem Mittagessen wieder kommen und es kann sich darunter etwas vorstellen. Grössere Zeiträume, wie zum Beispiel eine Woche Ferien bei den Grosseltern, sind aber auch in dieser Phase meistens noch nicht überblickbar. So kann es also durchaus sein, dass das Kind die Grosseltern als vollständigen Ersatz akzeptiert und dafür bei Ihrer Rückkehr weniger mit Freude als vielmehr mit Entsetzen reagiert, da Sie in seiner Vorstellung bereits gar nicht mehr existieren! Sie sollten dem Kind in diesem Fall Zeit lassen, sodass es sich langsam wieder annähern kann.

Von den Eltern verlassen werden ist wohl das Schlimmste, was einem Kind geschehen kann. Manche Eltern kommen deshalb in Versuchung, mit Verlassen zu drohen, wenn es dieses oder jenes nicht tut oder lässt, in der Hoffnung, das Kind möge dann schon gehorchen ("Wenn Du nicht aufhörst, Deine Schwester zu schlagen, musst Du ins Heim!"). Das ist gleich in mehrfacher Hinsicht heikel, ja kontraproduktiv, und zudem völlig unnötig. Wenn das Kind eine Grenze überschreitet, braucht es Ihr konsequentes "Nein!", einmal, dafür laut und deutlich ausgesprochen. Bedenken Sie die enorme Abhängigkeit des Kindes von Ihnen, verstehen sie schnell, weshalb es gelegentlich derart Angst haben kann, alleine gelassen zu werden. Wenn es Sie auf das Thema Tod anspricht, sollten Sie auch darüber offen mit ihm sprechen, zumal Kinder in aller Regel sehr viel einfacher als Erwachsene darüber sprechen können und immer wieder erfrischende Vorstellungen dazu einbringen!

In dieser Phase geht es also ganz allgemein darum, dass das Kind Grenzen auslosten kann. Es will immer wieder wissen, zu was es schon fähig ist und wie weit es gehen kann. Gleichzeitig wird es sich immer weder versichern, dass es sich auf seine Eltern verlassen kann, dass Sie also immer da sind, wenn es Sie braucht. Es braucht und sucht Herausforderungen. Dazu kann zum Beispiel auch das Thema gehören, ob es allein schlafen kann. Besprechen Sie mit ihm seine und Ihre eigenen Bedürfnisse und suchen Sie mit ihm nach entsprechenden Vereinbarungen. Kinder können dabei sehr kreativ und kooperativ sein. Wenn Sie sich darauf einlassen können, werden Sie staunen, wie schnell Ihr Kind selbständig wird und wie schnell Sie Ihrerseits dadurch entlastet werden!

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Mangelnde Versöhnung

Kinder können nicht nur körperlich beziehungsweise räumlich verlassen werden, sondern auch auf der Gefühlsebene. Das passiert vor allem bei Konflikten, wenn danach keine Versöhnung folgt. Gerade in der Phase der Willensbildung sind Konflikte unumgänglich, denn der frisch erwachte Wille des Kindes ist noch ungestüm und unkultiviert, kann also nur allzu schnell überborden und Grenzen überschreiten. Das ist völlig natürlich, doch braucht das Kind in solchen Situationen Ihren Widerstand und Ihre Standhaftigkeit. Das heisst, Sie müssen bei ihm bleiben, sodass es Sie auch spüren kann. Wenn das Kind zum Beispiel zu toben beginnt und Sie sich einfach mit der Bemerkung "Du kannst wieder kommen, wenn Du Dich beruhigt hast!" entfernen, wird es sich verlassen fühlen. Denn in dieser Situation braucht das Kind Sie ganz besonders! Bleiben Sie also bei ihm und warten Sie, bis es sich beruhigt hat. Das fordert von Ihnen Geduld, denn es will in dieser Zeit weder von Ihnen gehalten werden, noch irgendwelche Ermahnungen hören, es braucht einzig die Gewissheit, dass Sie "trotzdem" zu ihm stehen, obwohl es vielleicht gerade mit seinem Willen in eine Mauer gerannt ist. Solche Situationen müssen Sie in der Phase der Willensbildung gelegentlich durchstehen. Sobald Sie aber gelernt haben, angemessen auf das Toben zu reagieren, werden Sie staunen, wie einfach Sie danach mit dem Kind Regeln vereinbaren können, und wie sehr es sich darum bemühen wird, diese auch einzuhalten!

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Sozialisation bis Pubertät (etwa 4 bis 16 Jahre)

Wenn das Kind nach den beiden ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung genügend reif ist, kommt es auch schon mal auf die Idee, dass es durchaus auch ohne seine Eltern leben könnte. Und ganz so abwegig ist der Gedanke gar nicht, können sich doch Kinder in diesem Alter zum Beispiel bereits den üblichen Weg zu den Grosseltern merken oder die Nachbarn um Hilfe fragen und so auf die Idee kommen, sich "selbständig" zu machen. Das sollte Sie aber nicht etwa umgekehrt auf die Idee bringen, dass Sie das Kind von nun an einfach ohne Folgen verlassen könnten. Ganz im Gegenteil, denn für Ihr Kind bleiben Sie eine Art Versicherung: sobald es in Not ist, hat es die selbstverständliche Erwartung, dass Sie für es da sind. Diese Erwartungshaltung dauert zum Erstaunen mancher Eltern meistens noch ziemlich lange an. Sie sollten sich deshalb schon früh daran gewöhnen, dass Sie mehr und mehr eine Art Bereitschaftsdienst haben. Das ist natürlich eine enorme Erleichterung für Ihre Betreuungsarbeit, gleichzeitig aber auch ein ständiges Abschied nehmen. Oder anders ausgedrückt: Sie dürfen Ihr Kind nie verlassen, Ihr Kind aber darf Sie jederzeit verlassen - und früher oder später soll es Sie auch verlassen.

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Mutter und Vater

Grundsätzlich unterscheidet das "Zweimalzwei der Erziehung" nicht zwischen Vater und Mutter, sondern spricht immer von "Eltern". Während den beiden ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung kommen Mutter und Vater allerdings zwei, zumindest archetypisch gesehen, unterschiedliche Rollen zu, die gerade im Zusammenhang mit Verlassen werden von grösserer Bedeutung sind. Denn während der Vertrauensbildung kommt der Mutter schon allein durch die Schwangerschaft und das Stillen eine absolut vorrangige Stellung zu. Und Verlassen werden bedeutet immer einen eklatanten Vertrauensbruch. Es gibt denn auch kaum ein schlimmeres Trauma für ein Kind, als in dieser Zeit von der Mutter verlassen zu werden. Demgegenüber kommt dem Vater in dieser Zeit eine eher unterstützende Aufgabe zu, indem er in erster Linie der Mutter ermöglicht, ihre Aufgabe zu erfüllen.

Entscheidend wird der Vater grundsätzlich aber mit der Willensbildung, die in der Regel etwa im dritten Lebensjahr einsetzt. An ihm liegt es dann, das Kind gewissermassen aus dem Schoss der Mutter zu locken, ihm Herausforderungen zu bieten, aber auch klare Grenzen zu setzen. Diese Aufgabe deckt sich natürlich eher mit dem Thema der Trennung, ist also nicht derart gegensätzlich zu jener der Mutter zuvor. Zudem ist es grundsätzlich möglich, dass die Mutter auch diese Aufgabe übernimmt. Das ist zwar eine grosse Herausforderung und enorme Belastung, doch immerhin nicht ganz so unmöglich wie es umgekehrt gewesen wäre! Der Verlust des Vaters während den beiden ersten Phasen der Erziehung, ganz gleich aus welchem Grund, wirkt sich denn auch meistens nicht gleich traumatisch aus wie der Verlust der Mutter.

Dieser archetypische Unterscheid zwischen Mutter und Vater tritt je länger desto mehr in den Hintergrund. So wird im Rahmen der Sozialisation zum Beispiel mehr und mehr die Tatsache der gleich- oder eben gegengeschlechtlichen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind von Bedeutung, und überhaupt die verschiedenen Persönlichkeiten der Kinder und der Eltern. Es ist denn auch völlig normal, dass der eine oder andere Elternteil zum einen Kind eine engere Beziehung hat als zum anderen. Entsprechend kann sich der Verlust des Vaters oder Mutter auf jedes Kind ganz unterschiedlich auswirken.

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Tod, Adoption, Scheidung, Fremdplatzierung

Der Extremfall von Verlassen werden ist der Tod der Mutter oder die Freigabe des Kindes zur Adoption. Dabei spielt es zunächst gar keine Rolle, aus welchem Grund das Kind verlassen wird, denn auch wenn es ihn kennen würde: es könnte ihn nicht verstehen. Und es ist der Situation vollkommen hilflos ausgeliefert, wird es doch gerade von der Person verlassen, von der es am meisten Fürsorge braucht und erwartet. Dieses Trauma ist denn auch kaum je ganz heilbar. Wenn Sie zum Beispiel eine Betreuungsfunktion für ein (Halb)Waisenkind haben, müssen Sie deshalb äusserst achtsam sein. Gleichzeitig müssen Sie ihm die Wahrheit sagen, soweit Sie diese kennen. Kinder können mit der - auch harten - Wahrheit sehr viel besser umgehen als mit Tabuisierungen. Und sie spüren zudem sehr gut, wie genau Sie es mit der Wahrheit nehmen!

Auch die Trennung der Eltern kann für das Kind als Verlassen werden (durch den wegziehenden Elternteil) empfunden werden. Je nach Alter wird es auch nach dem Grund der Trennung suchen. Diese Suche hat weniger mit der Frage nach der "Schuld" an der Trennung zu tun, als mehr mit dem Bedürfnis des Kindes nach Ordnung, beziehungsweise nach einer Erklärung für den Verlust dieser Ordnung. Sie sollten dem Kind deshalb sämtliche seine Fragen so gut als möglich beantworten und dabei für seine Gefühle zu aufmerksam zu sein, die häufig zwischen Trauer, Angst und Wut pendeln. In solchen Momenten braucht das Kind vermehrt Trost beziehungsweise Versöhnung. So können Kinder durchaus auch traumatische Erlebnisse, wie eben das Verlassen werden, einigermassen verarbeiten. Wird das Trauma hingegen tabuisiert, indem das Kind zum Beispiel mit seinen Fragen abgewimmelt oder gar mit unehrlichen Antworten angeschwindelt wird, bleibt die Wunde offen und kann noch schlechter verheilen.

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Mögliche Folgen

Wenn ein Kind von seinen Eltern verlassen wird, ist das grundsätzlich immer ein traumatisches Erlebnis. Dabei ist der Grund des Verlusts weit weniger wichtig als der Zeitpunkt in der Entwicklung. Und obwohl sich der Mensch in aller Regel nicht mehr an die ersten Jahre der Kindheit erinnern kann, ist es gerade diese Zeit, in der die Grundlagen für die Beziehung geschaffen werden, sodass ein Verlust immer eine massive Beeinträchtigung des Vertrauens bewirkt. Daraus entstehen regelmässig entsprechende Verlustängste. Zudem ist die Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind die Grundlage für alle späteren Beziehungen des Menschen, was natürlich zur Belastung werden kann, sodass unter Umständen professionelle Hilfe in Form einer Therapie ratsam sein kann.

Die möglichen Folgen hängen zudem stark von der Persönlichkeit des Kindes ab. Ist das verlassene Kind eher ein Willenstyp als ein Vertrauenstyp, kann es zum Beispiel sein, dass es umso früher selbständig wird und sich dafür weniger auf Beziehungen verlässt.

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Weiterführende Themen

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Übergeordnetes Thema

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Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email


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