Klauen und Stehlen

Aus 2 x 2 der Erziehung
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Von Natur aus funktioniert der Mensch immer noch wie ein Jäger und Sammler, nimmt sich also von seiner Umgebung das, was er zum Leben braucht oder häuft sich gar Vorräte für "schlechte Zeiten" an. Für Kinder ergeben sich in der westlichen Zivilisation gleich mehrere Schwierigkeiten:

  • Die Idee des Eigentums ist Kindern von Natur aus noch völlig fremd.
  • Die Regeln des Eigentums können zudem derart komplex sein, dass sie in den ersten Jahren kaum verstanden werden.
  • Gleichzeitig ist der Wille des Kindes anfangs noch grenzenlos und macht auch vor fremden Dingen nicht Halt.

Während den beiden ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung kann es deshalb bloss darum gehen, dass Sie lernen, dem Kind Grenzen zu setzen. Das kann für das Kind durchaus frustrierend sein. Sie müssen deshalb allenfalls bereit sein, das Kind immer, sofort und bedingungslos zu trösten, beziehungsweise sich mit ihm zu versöhnen. So kann es die nötige Frustrationstoleranz aufbauen, die es braucht, wenn es erfährt, dass es nicht alles haben kann, wonach ihm gerade gelüstet. Erst wenn es diese Reife erreicht hat, macht es überhaupt Sinn, von "Klauen" oder gar von "Stehlen" zu sprechen.

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Aufbau von Frustrationstoleranz

Für ein Kind ist es zunächst ziemlich frustrierend, dass es zwar fähig ist, sich anzueignen, was es braucht oder wonach ihm gerade gelüstet, ihm aber sogleich gesagt wird, dass es das aus irgendwelchen Gründen nicht darf (sei es, dass die Blumen statt auf der Wiese in Nachbars Garten stehen oder unter Naturschutz stehen, sei es, dass sie das eine Mal im Blumenladen stehen, das andere Mal aber im Rahmen einer Werbeaktion verschenkt werden). Entscheidend ist deshalb, dass das Kind in den ersten Jahren genügend Frustrationstoleranz aufbauen kann. Dafür sind Sie als Eltern verantwortlich, indem Sie lernen, dem Kind erstens jederzeit bedingungslosen Trost zu geben und ihm zweitens die Möglichkeit zur Versöhnung mit der Unbill des Lebens zu schaffen. So kann das Kind früh genug erfahren, dass es auch dann noch geliebt wird, nachdem es mit seinem Willen auf Widerstand gestossen ist.

Während den ersten Jahren macht es zudem auch nicht Sinn, von "Klauen" oder gar von "Stehlen" zu sprechen: Das Kind nimmt ganz einfach das, was es braucht oder wonach es ihm gelüstet, ganz ohne Absicht, sich unrechtmässig zu bereichern. Es geht deshalb einzig darum, dass Sie lernen, erstens dem Kind Grenzen zu setzen und zweitens auf allfälliges Toben angemessen zu reagieren.

Phase der Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Während der Phase der Vertrauensbildung dürfen und sollen Sie dem Kind grundsätzlich alles geben, wonach es verlangt, denn sein Wille ist noch auf das blosse Überleben beschränkt, also die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse. Einzige Grenze sind wirkliche (!) Gefahren, wozu zum Beispiel auch der Schutz vor allfällig vorhandenem Überfluss gehört. Wenn sich das Kind zum Beispiel am Küchenschrank mit den Süssigkeiten zu schaffen macht, geht es ihm nicht etwa darum, sich zu bereichern, sondern zunächst einmal schlicht darum, seine Fähigkeit zur Selbständigkeit auszuprobieren. Und dazu sollen Sie grundsätzlich immer "Ja" sagen. Sie sind denn auch selbst dafür verantwortlich, dass das Kind nicht in Versuchung kommt, sich masslos zu bedienen und so womöglich seine Gesundheit zu gefährden, indem Sie die Süssigkeiten unerreichbar oder nicht einsehbar versorgen. Ein Kind in diesem Alter wäre mit der Forderung, die Schokolade "bloss mit den Augen anzusehen" oder "nicht zu viel zu essen", völlig überfordert.

Kinder machen schon sehr früh die Erfahrung, dass ihnen immer wieder Sachen abhandenkommen, die ihnen lieb und teuer sind, sei es, dass der Luftballon platzt, sei es, dass das Plüschtier verloren geht. In solchen Fällen brauchen sie nichts anderes als Trost, bedingungslos, immer und möglichst sofort. Vertrösten Sie das Kind nicht etwa, indem Sie ihm sogleich einen Ersatz beschaffen, sondern halten Sie den Schmerz oder die Trauer aus. So kann das Kind lernen, mit Verlust umzugehen und Frustrationstoleranz aufzubauen. Das schützt es davor, negative Energien wie Neid oder Eifersucht zu entwickeln.

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Phase der Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Wenn das Kind beginnt seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, können seine Wünsche und Begehrlichkeiten plötzlich ins Unermessliche reichen. Dann müssen Sie lernen, dem Kind auch Grenzen zu setzen, indem Sie "Nein!" sagen, einmal, dafür laut und deutlich. Zudem werden Sie lernen müssen, auf allfälliges Toben angemessen zu reagieren. Danach können Sie mit dem Kind Vereinbarungen schliessen und zum Beispiel von ihm verlangen, dass es Sie immer zuerst fragen muss, wenn es etwas aus dem Küchenschrank nehmen will oder mit ihm zusammen einen Bereich des Küchenschranks bestimmen, über den es frei verfügen darf. Dabei geht es noch nicht darum, dem Kind irgendwelche Eigentumsverhältnisse oder Befugnisse zu erklären, sondern schlicht darum, dass Sie dem Willen des Kindes Widerstand leisten.

Ähnliches wird das Kind auf dem Spielplatz erfahren, wenn es mit dem Spielzeug anderer Kinder spielen will. Anfangs wird es einfach nehmen, wonach es Lust hat. Selten geht das ohne Widerstand und es kann gut sein, dass sich das andere Kind mit Händen und Füssen zu wehren beginnt. Solche körperlichen Erfahrungen von Grenzen sind nicht nur unvermeidbar, sondern wichtig. Es ist für Sie als Eltern die Gelegenheit, dem Kind zu erklären, dass Dinge jemandem "gehören" und dass derjenige, dem sie gehören, bestimmen darf, was damit geschehen darf und was nicht. Sprechen Sie aber noch nicht von "Klauen" oder gar von "Stehlen“, sondern fragen Sie zum Beispiel "Hast Du den Traktor einfach genommen?". Schliesslich geht es ja nicht um eine Anklage, sondern bloss um die Feststellung, dass etwas "so nicht geht". Seien Sie sich immer bewusst, dass sich ein Kind in diesem Alter, das nimmt, was es will, zunächst einmal ganz natürlich verhält. Das Konzept des Eigentums ist eine Errungenschaft der westlichen Zivilisation, das einiges an kognitiven Fähigkeiten verlangt, um verstanden werden zu können (so gelten zum Beispiel für den Sand am Meeresstrand andere Regeln als für den Sandkasten bei den Nachbarn, während das Kind immer bloss Sand zum Spielen sieht). Ein klares und konsequentes "Nein!" versteht hingegen jedes Kind!

Das Kind soll aber auch erfahren, dass es etwas erreichen kann, wenn es sich dafür einsetzt, denn es sucht und braucht Herausforderungen. Ermutigen Sie es deshalb auch fremde Kinder oder Personen zu fragen, ob es zum Beispiel die begehrte Schaufel ausleihen darf. Es kann so erfahren, dass es sich lohnt, wenn es sich mit all seinen Fähigkeiten für seine Anliegen einsetzt (und viele Leute sehr gerne bereit sind, einem fragenden Kind zu helfen!). So kann es lernen, seinen Willen geschickt einzusetzen, also gewissermassen zu kultivieren.

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Angemessene Reaktion

Wenn Sie während den ersten Jahren gelernt haben, dem Kind Grenzen zu setzen und sich mit ihm zu versöhnen, wird es genügend Frustrationstoleranz entwickelt haben, um damit umgehen zu können, dass es nicht alles haben kann, was es will. Trotzdem gibt es aber noch eine relativ grosse Grauzone, in der es für ein Kind nicht immer eindeutig ist, was es einfach ohne zu fragen nehmen darf, oder es allzu leicht in Versuchung kommen kann, die Regeln ein wenig zu seinen Gunsten zurechtzubiegen. Als Eltern dürfen und sollen Sie dafür einerseits eine gewisse Toleranz aufbringen, andererseits müssen Sie das Kind aber auch mit den Fakten und Regeln konfrontieren, dürfen sein Verhalten also nicht einfach ignorieren:

Sozialisation bis Pubertät (etwa 4 bis 16 Jahre)

Regeln

Mit dem Eintritt in die (Vor)Schule muss das Kind auch mit Regeln ausserhalb der Familie klarkommen können. Es weiss dann zum Beispiel, für welche Dinge es fragen muss und wann es sich einfach bedienen darf. Zudem kann es von seinen Kameraden nicht mehr mit der gleichen Toleranz rechnen, die ihm seine Eltern entgegengebracht haben, wenn es sich zum Beispiel an deren Jackentaschen zu schaffen macht. Sprechen Sie es immer an, wenn Sie feststellen, dass da etwas nicht stimmt. Kinder können ihr schlechtes Gewissen noch kaum verbergen oder "beichten" sogar von sich aus. Voraussetzung ist natürlich ein intaktes Vertrauen. Klären Sie mit dem Kind zunächst ganz sachlich, was passiert ist ("Hast Du den Schokoriegel einfach ohne zu fragen genommen?"). Achten Sie darauf, ob ihm überhaupt bewusst ist, dass es etwas getan hat, das es nicht darf. Hat es zum Beispiel Ihre Halskette aus der Schmuckkiste "entführt", wollte es vielleicht bloss einmal so schön aussehen wie Sie. Erklären Sie ihm dann, dass Sie ihm vertrauen, dass es Sie um Erlaubnis fragt, dass Sie also enttäuscht sind. Und vereinbaren Sie mit ihm zusammen eine klare Regel, was es darf und was nicht. Kinder können in diesem Alter durchaus verstehen, dass Sie zum Beispiel Ihren Privatbereich haben, allerdings müssen Sie das natürlich auch umgekehrt respektieren.

Aufklärung

Langsam aber sicher dürfen und sollen Sie dem Kind nun auch erklären, was "Klauen" beziehungsweise "Stehlen" bedeuten, allerdings nicht im Sinne einer Anschuldigung, sondern eben mehr im Sinne eines Aufklärens. Bedenken Sie, dass Kinder von Natur aus ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden haben und schon allein deshalb lieber auf der "guten Seite" stehen. Zudem geht es immer um Vertrauen, also gewissermassen um das höchste Gut in einer Beziehung. Sie sollten also vorsichtig sein, wenn Sie Ihr Kind verdächtigen! Eine gute Strategie ist dabei, das "Vergehen" zusammen aufzuklären, sodass sich das Kind nicht vor der (durchaus nötigen) Konfrontation fürchten muss, sondern mit Ihnen gemeinsam an der "Aufklärung des Falls" arbeiten kann. So kann das Ergebnis schliesslich zu einer Erleichterung für das Kind werden, da es ihm selbst unwohl sein dürfte, mit dem Gefühl des Unrechts zu leben. Helfen Sie ihm dann allenfalls dabei, den Schaden wieder zu beheben, indem Sie ihm zum Beispiel anbieten, es zu begleiten, wenn es das Geklaute zum Nachbarskind zurückbringen soll.

Grauzonen

Bedenken Sie den häufig schmalen Pfad zwischen zulässiger Raffinesse und verpöntem Unrecht. Besonders gut zeigt sich das beim Sport, wo der eine Spieler dem anderen den Ball nur unter Einhaltung ganz bestimmter Regeln "wegnehmen" darf (und ihn unter weiteren Bedingungen wieder hergeben muss). Spiel und Sport sind denn auch bestens geeignete Übungsfelder, um das Gespür für Fairness und Gerechtigkeit zu trainieren. Und darum sollte es letztlich ja auch gehen: dass Kinder und Jugendliche ein Bewusstsein dafür entwickeln, was in unserer Gesellschaft Recht und was Unrecht ist. Schliesslich kann es auch vorkommen, dass dem Kind das Verständnis für ein Unrecht noch völlig fehlt, weil es zum Beispiel die Funktionsweise eines Selbstbedienungsladen gar nicht versteht. Es wird dann vielleicht vehement abstreiten, dass es dort etwas geklaut hat, weil es andere Leute beim Einkaufen beobachtet hat und übersehen hat, dass diese an der Kasse für die Ware zahlen. In einem solchen Fall könnten Sie es auffordern, mit Ihnen in den Laden zurückzugehen und dort mit ihm das Personal fragen, wie sich wirklich verhält.

Vorbildfunktion

Selbstverständlich sollte schliesslich sein, dass Sie selbst Vorbild sind, wenn es um rechtmässiges Verhalten geht. Denn Kinder vertrauen ihren Eltern von Natur aus und gehen deshalb davon aus, dass alles was, diese tun und lassen, gut ist. Seien Sie deshalb besonders vorsichtig, wenn es um Grauzonen geht, zum Beispiel bei einem Spielzeug, das auf der Strasse liegt und bei dem nicht sicher ist, ob das einfach verloren gegangen ist oder absichtlich fortgeworfen wurde. Sie könnten dann zumindest mit dem Kind besprechen, was am besten zu tun sei, statt sich vorschnell für das stillschweigende "Mitlaufen" lassen entscheiden.

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Erwachsenwerden (etwa 16 bis 25 Jahre)

Spätestens mit dem Eintritt in die Erwachsenenwelt verlangt die Gesellschaft von ihren Mitgliedern, dass sich diese an die Regeln halten und reagiert bei Diebstahl mit entsprechenden strafrechtlichen Mitteln. Dass Ihre Kinder den einen oder anderen Diebstahl oder ähnliches begehen, ist auch bei bester Erziehung nicht ganz zu vermeiden, sind doch die Verlockungen der Konsumwelt gross und kann der Wunsch nach sozialer Anerkennung durch (zu) teure Statussymbole ebenso gross sein. In Ihrer Verantwortung liegt das aber nicht mehr, ganz abgesehen davon, dass Sie in diesem Alter auch kaum mehr Einfluss ausüben können. Junge Erwachsene müssen allenfalls Lehrgeld bezahlen, um entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Ihnen als Eltern bleibt bloss noch das Vertrauen in Ihre eigene Erziehungsarbeit während den ersten beiden, alles entscheidenden Phasen.

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Kontraproduktive Reaktionen

In den ersten Jahren sollten Sie sich vor allem vom Gedanken distanzieren, dass Ihr Kind irgendein Unrecht begeht, wenn es etwas nimmt, das ihm nicht gehört (das gilt übrigens auch für Treten und Schlagen oder für Schummeln und Lügen). Es geht einzig darum, dass Sie lernen, das Kind über die Regeln aufzuklären und ihm Grenzen zu setzen. Tadel, Drohungen oder gar Strafen hingegen wären geradezu kontraproduktiv, da sich das Kind "bestenfalls" abgestossen fühlen wird, schlimmstenfalls aber dazu angestachelt wird, beim nächsten Mal einfach noch raffinierter vorzugehen, um sich nicht erwischen zu lassen. Das führt nicht nur zu einem weiteren Vertrauensverlust, sondern dem Kind wird auch keine Grenze gesetzt, die es eigentlich dringend benötigt, sodass daraus schnell ein Teufelskreis werden kann.

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Weiterführende Themen

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Übergeordnetes Thema

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Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email


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