Wünsche des Kindes
Wünsche sind immer in die Zukunft gerichtet. Schon allein deshalb hat das Kind in den ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung von Natur aus noch keine Wünsche, denn es lebt voll in der Gegenwart. Wünsche sind denn auch zu unterscheiden
- erstens von Grundbedürfnissen und
- zweitens vom Willen des Kindes.
Schliesslich sind Wünsche regelmässig vom Zutun Anderer abhängig, Kinder aber wollen grundsätzlich immer alles selbst tun. - Und das ist gut so!
Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)
Grundbedürfnisse
Kinder in der Phase der Vertrauensbildung haben noch keine Wünsche, sondern ausschliesslich Grundbedürfnisse. Denn Wünsche zielen immer in die Zukunft, diese aber liegt in den ersten Lebensjahren noch weitgehend ausserhalb des Vorstellungsvermögens eines Kindes! Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, denn während die Grundbedürfnisse immer sofort und bedingungslos befriedigt werden müssen, wird das Kind später lernen können, dass es für die Erfüllung seiner Wünsche auch etwas leisten oder zumindest warten muss. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse hingegen muss bedingungslos erfolgen. Das ist die Grundvoraussetzung für die Vertrauensbildung zwischen Eltern und Kind: Nur wenn sich das Kind darauf verlassen kann, dass ständig zu ihm gesorgt wird, wird sein Vertrauen in die Eltern bestätigt und kann es entsprechend Selbstvertrauen entwickeln. Wenn dem Kind etwas fehlt, meldet es sich im übrigen von selbst und wenn es sich nicht verstanden fühlt, beginnt es zu schreien. Sie brauchen also das Kind nicht etwa nach seinen Wünschen zu fragen, es wäre damit schlicht überfordert, sondern Sie müssen lernen zu erkennen, was ihm fehlt (Essen, Schlaf, Wären, Gehalten werden usw.). Mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse brauchen Sie sich im übrigen auch nicht davor zu fürchten, dass Sie das Kind verwöhnen würden, ganz im Gegenteil: Sie dürfen ihm in dieser Zeit ganz einfach alles geben, wonach es verlangt: die Phase der Vertrauensbildung ist auch die Zeit des "Ja's"". Die einzige Einschränkung gilt selbstverständlich bei Gefahren (wozu zum Beispiel auch Überfluss gehört).
Provozierte Wünsche
In der Phase der Vertrauensbildung verlangt das Kind nicht mehr, als es tatsächlich braucht. Sie sollten dem Kind deshalb nicht mehr anbieten, als es nötig hat. Denn mit "Auswahlsendungen" wäre es noch überfordert. Wenn Sie ihm zum Beispiel mehrere Getränke zur Auswahl anbieten, obwohl es bloss Durst hat und ihm Wasser oder Tee völlig genügen, provozieren Sie wählerisches Verhalten und somit Wünsche. Denn das Kind vertraut Ihnen und meint, es müsse nun jedes Mal, wenn es Durst hat, eine Auswahl haben. Wenn Sie ihm das dann noch zum Vorwurf machen, ist der Teufelskreis perfekt.
Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)
Wille und Wünsche
Erst mit der Willensbildung, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, müssen Sie lernen, Wünsche vom Willen zu unterscheiden, da es sonst zu heiklen Missverständnissen kommen kann. Das Kind wird zunächst einfach sagen „Ich will...“ – und das ist auch gut so! Das Kind muss diese unglaublich starke, kreative und deshalb fundamentale Kraft des Menschen zuerst einmal in seiner ursprünglichen, rohen Form erfahren dürfen, inklusive der möglichen Konfrontation. Und die Eltern müssen lernen, dem Kind Grenzen zu setzen. Das Kind muss zumindest einmal erfahren, dass es auf den harten Widerstand der Eltern trifft und diese der Konfrontation nicht ausweichen. Das bedeutet insbesondere, dass Sie lernen auf allfällige Tobsuchtsanfälle angemessen zu reagieren. Der Wille des Kindes muss also zuerst gewissermassen kultiviert werden, sodass das Kind erkennen kann, dass es für sein eigenes Wohlbefinden auch auf das Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen ist und dass sein eigener Wille mit dem seiner Umgebung zusammenstossen kann. Dazu braucht es Regeln, die Sie mit ihm zusammen vereinbaren sollten. In Bezug auf Wünsche kann das auch bedeuten, dass Sie gewisse Forderungen stellen, die das Kind erfüllen muss, wenn es zum Beispiel ein aussergewöhnliches Geschenk begehrt.
Begehrlichkeiten und Anstandsregeln
Der Wille des Kindes kann nun weit über seine Grundbedürfnisse hinausgehen. Und wenn Sie dem einfach nachgeben, werden die Begehrlichkeiten schon bald ins Unermessliche steigen. Das ist nicht etwa das Problem des Kindes, sondern einzig der Eltern, die zu wenig oder gar keine Grenzen setzen. Problematisch wird das insbesondere in Kombination mit dem in der westlichen Zivilisation allgemein vorherrschenden Überfluss, da natürliche Grenzen mehr und mehr wegfallen: Industriell produzierte Lebensmittel oder aus Fernost importiertes Spielzeug sind derart billig geworden, dass Eltern gerne in Versuchung kommen, immer noch mehr zu kaufen. Helfen kann dann bloss noch das Mittel der "künstlichen Verknappung". Noch besser wäre natürlich, wenn Sie auf qualitativ hochwertige und handwerklich hergestellte Lebensmittel und Spielzeug achten würden (und das auch von den Verwandten und Bekannten fordern, die ihr Kind beschenken wollen), denn ein angemessener Preis führt schon von alleine zu mehr Achtsamkeit (und nebenbei noch zu mehr Nachhaltigkeit). In der Phase der Willensbildung kommt zudem dem Thema Verwöhnen eine ganz andere Bedeutung zu als bisher: Das Kind braucht nun auch Ihr "Nein!". Wenn Sie ihm alles geben und machen, bloss weil Sie genügend oder gar zu viele Kapazitäten haben, ohne dass es sich selbst dafür anstrengen muss, ist das eine höchst kontraproduktive Art des Verwöhnens.
Bringen Sie dem Kind nicht allzu früh Anstandsregeln bei ("Sag schön 'Bitte'!"). Lassen Sie das Kind zunächst einmal erfahren, dass sein Wille auf Grenzen stossen kann, indem Sie ihm klar und konsequent "Nein!" sagen, wenn es mehr will, als Sie ihm geben wollen. Und lernen Sie, angemessen auf Tobsuchtsanfälle zu reagieren. Erst wenn Sie es geschafft haben, sich danach mit dem Kind zu versöhnen, können Sie beginnen, mit dem Kind Regeln zu vereinbaren. Solche Vereinbarungen können durchaus auch Anstandsregeln sein. Allerdings müssen diese für das Kind erstens verständlich und zweitens einigermassen sinnvoll sein (was leider bei sehr vielen Manieren nicht der Fall ist!), ansonsten das Kind zum Beispiel die sogenannten "Zauberworte" ("Bitte", "Danke" usw.) bestenfalls mechanisch nachplappern wird, ohne dabei ein Gefühl von Dankbarkeit oder ähnlichem zu verbinden. Davon abgesehen können Sie auch Ihrer Vorbildfunktion vertrauen und davon ausgehen, dass das Kind Ihre Anstandsregeln von sich aus nachzuahmen beginnt! Denn das Kind vertraut Ihnen ja und beobachtet sehr genau, welche Regeln in der Kommunikation wie funktionieren!
Sozialisation bis Pubertät (etwa 4 bis 16 Jahre)
Wenn Kinder - und erst recht Jugendliche - erst einmal mit all den Verlockungen in den Schaufenstern dieser Welt in Kontakt kommen, wachsen auch ihre Wünsche regelmässig in den Himmel. Auch wenn es Ihnen bisher gelungen ist, das Kind möglichst vor Werbung und Unterhaltungselektronik zu verschonen, werden Sie die Beeinflussung durch die Konsumindustrie je länger desto weniger vermeiden können. Es ist deshalb umso wichtiger, dass Ihnen der Unterschied zwischen Wollen und Wünschen klar ist. Wenn das Kind etwas will, ist es auf seinen eigenen Willen angewiesen, wenn es ich hingegen bloss etwas wünscht, ist die Erfüllung des Wunsches immer vom Wohlwollen eines anderen Menschen oder zumindest von glücklichen Umständen abhängig. Gerade in diesem wesentlichen Unterschied liegt denn auch der enorm hohe Wert eines gesunden Willens. Wenn Sie dem Kind in den Jahren zuvor die Möglichkeit gaben, seinen Willen gewissermassen zu kultivieren, indem Sie ihm diesen einerseits als etwas vom Wertvollsten überhaupt liessen, ihm aber auch angemessen Widerstand leisteten, konnte das Kind diese Kraft derart kultivieren, dass es grundsätzlich alles erreichen kann, was es will; Gleichzeitig kann es auch die Anliegen seiner Mitmenschen und der Umwelt respektieren.
Auf dieser Grundlage können Sie dem Kind auch zeigen, wie es seine Wünsche in Erfüllung bringen kann. Wenn es zum Beispiel einen anspruchsvollen Berufswunsch hat, können Sie mit ihm besprechen, was das für seine schulischen Anstrengungen bedeutet. Oder wenn es sich ein noch schöneres Fahrrad wünscht, können Sie ihm Möglichkeiten aufzeigen, wie es sich zusätzliches Taschengeld verdienen kann. Kinder sind von Natur aus sehr motiviert, entscheidend ist aber, dass Sie als Eltern alles dafür tun, dass die Lust und der Wille, Ziele zu erreichen, erhalten bleiben. Gerade das Thema Taschengeld ist ein hervorragendes Übungsfeld: Überlassen Sie es mehr und mehr dem Kind, bestimmte Budgetposten selbst zu verwalten. Sobald der Wunsch nach bestimmten Kleidern aufkommt, können Sie mit Jugendlichen vereinbaren, dass sie zum Beispiel bestimmte Teile wie Hosen auf eigene Rechnung kaufen und dafür das Taschengeld entsprechend erhöhen. Sie müssen dann bloss noch von Zeit zu Zeit zusammen besprechen, ob Ihre Tochter oder Ihr Sohn einigermassen damit zurecht kommt. Ob die Hose dann aber aus der Boutique oder dem Brockenhaus kommt, muss Ihnen egal sein. Anfangs dürften die meisten Jugendlichen noch gelegentlich überfordert sein, doch dürfen Sie ruhig ebenso Eigenverantwortung fordern, wie die Jugendlichen nach Selbständigkeit rufen.
Mögliche Folgen von unerfüllten Wünschen
Kinder, deren Wille gebrochen wurde oder nicht richtig kultiviert wurde, drohen in Wunschdenken abzugleiten: Sie haben zu wenig Selbstvertrauen um an ihre Fähigkeiten und an ihre konstruktiven, kreativen Kräfte zu glauben. Die Gefahr ist dann gross, dass sie passiv werden und in ihrer Passivität irgendwann resignieren. Wenn sie aus dieser erbärmlichen Situation nicht mehr herauskommen, geraten sie in einen Teufelskreis, denn alles, was sie erfahren, ist, dass ihre Wünsche nicht Erfüllung gehen, beziehungsweise ihr Wille zu schwach ist, um etwas zu erreichen. Typische Folgen sind Hoffnungslosigkeit, mangelnde Frustrationstoleranz, Depressionen und süchtiges Verhalten.
Wünsche können nur in Erfüllung gehen, wenn der Mensch selbst etwas dazu tut. "Jeder ist seines Glückes Schmied" sagt ein schönes Sprichwort dazu. Es braucht also einen gesunden Willen. Die Phase der Willensbildung, so herausfordernd sie für Eltern manchmal sein mag, ist deshalb für das Glück des Kindes absolut entscheidend!
Weiterführende Themen
Übergeordnetes Thema
- Vertrauensbildung (erstes Phase der Erziehung)
- Willensbildung (zweite Phase der Erziehung)
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