Nähe und Distanz


Das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz ist eines der Grundthemen in jeder Beziehung, so auch in der Beziehung zwischen Eltern und Kind, also in der Erziehung. Allerdings sind es die Kinder allein, die bestimmen, wie viel Nähe gerade nötig beziehungsweise möglich ist. Denn als Eltern haben Sie keinen Anspruch auf Nähe, sondern einzig die Aufgabe, Ihrem Kind so viel Nähe zu geben, wie es verlangt und es wieder loszulassen, wenn es genug hat. Wie viel Nähe oder Distanz ein Mensch braucht, ist zudem eine Frage der individuellen Persönlichkeit.

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Vertrauensbildung (bis etwa 2 Jahre)

Stillen

Die vollkommene Nähe erlebt das Kind offensichtlich während der Schwangerschaft im Mutterleib. Am meisten Nähe braucht es denn auch während der ersten Phase nach der Geburt, also während der Vertrauensbildung. Das beginnt schon mit dem Bedürfnis nach Gestillt werden. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass Kinder im allgemeinen die Nähe zunächst als Erstes bei der Mutter suchen. Und es ist das Kind, das bestimmt, wann es genug hat, indem es sich von abwendet. Als Mutter müssen Sie deshalb bloss lernen dem Kind zu vertrauen, dass es selbst am besten weiss, wann es genug hat.

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Liebkosen

Das Grundbedürfnis nach Nähe ist zunächst vor allem ein körperliches. Sie stillen dieses Bedürfnis indem Sie das Kind liebkosen. Achten Sie aber immer auf seine Mimik und Gestik, denn es braucht nicht einfach so viel wie möglich, sondern so viel es mag! Das gilt gerade auch, wenn es von Verwandten oder Freunden gehalten wird, die es "am liebsten fressen" würden. Kinder haben ein sehr feines Gespür dafür, wie viel für sie stimmt! Dieses Gespür müssen Sie dem Kind unbedingt lassen, indem Sie es respektieren, also aufmerksam sind und genau hinschauen, ob das Kind die Liebkosung auch wirklich geniesst oder ob es sich dagegen wehrt. Drängen Sie es also keinesfalls dazu, zum Beispiel die Grosseltern zu umarmen, wenn es gar nicht mag (wenn es mag, tut es das von sich aus!). Anstandsregeln, die das Kind zu ungewollter Nähe zwingen, sind zumindest in den ersten Jahren höchst kontraproduktiv, streng genommen sogar ein eigentlicher Missbrauch!

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Neues und Unbekanntes

Für ein Neugeborenes ist ausser der Mutter alles in dieser Welt noch neu und unbekannt. Es will zwar alles entdecken, doch ist es dabei von Natur aus - und durchaus vernünftigerweise - vorsichtig. Geht ihm etwas zu schnell, ängstigt es sich leicht. Lassen Sie ihm deshalb die Zeit, die es braucht, wenn es zum Beispiel noch unbekannte Personen kennenlernen soll, und zwar auch dann, wenn es sich um Ihre engen Freunde oder Verwandten handelt. Da sich das Kleinkind gegen zu viel Nähe von Fremden noch kaum wehren kann, liegt es an Ihnen die nötige Distanz zu schaffen (und zwar gerade auch dann, wenn diese meinen, sich aus irgendeinem Grund direkt auf Ihr Kind zustürzen zu müssen).

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Halten und Loslassen

Gehalten werden ist ein Grundbedürfnis des Kindes, insbesondere des Kleinkindes, wonach es sofort zu schreien beginnt, wenn es ihm fehlt. Idealerweise können Sie dieses Bedürfnis tagsüber mit Kindertragen befriedigen und nachts, indem Sie es im Elternbett oder doch zumindest im Elternzimmer schlafen lassen. Allerdings brauchen schon Kleinkinder bald auch eine gewisse Distanz, was sie zunächst bloss mit ihrer Mimik oder Gestik ausdrücken können. Sie sollten deshalb von Anfang an sehr aufmerksam sein und dem Kind die Bewegungsfreiheit lassen, die es verlangt. Lassen Sie es also zum Beispiel immer und ohne weiteres von Ihrem Schoss runter, wenn es danach verlangt. Das "Recht" auf Nähe ist nämlich einseitig, das heisst, das Kind allein sollte bestimmen dürfen, wie viel es braucht (abgesehen natürlich von Situationen, in denen eigentliche Gefahren drohen).

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Trost

Für Kleinkinder gibt es täglich eine Vielzahl von Situationen, in denen sie Trost brauchen. Dazu genügt schon, dass Sie selbst ruhig bleiben und das Kind in die Arme nehmen. Die Nähe zu den Eltern wirkt grundsätzlich immer tröstend! Sie brauchen bloss noch zu warten, bis das Kind signalisiert, dass es genug hat - und es dann wieder loslassen.

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Willensbildung (etwa 2 bis 4 Jahre)

Herausforderungen

Wenn das Kind beginnt seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, verlangt es häufig mit sehr viel Vehemenz nach Distanz. Es spürt, dass es mit seinem Willen unglaublich viel erreichen kann, sei es Bäume hochklettern, sei es selbständig bekannte oder auch unbekannte Wege zu gehen. Ist das Vertrauensverhältnis genügend gefestigt, wird es nun auch ohne weiteres bereit sein, zum Beispiel bei den Grosseltern übernachten. Auch die Fremdbetreuung zum Beispiel in der KITA dürfte, eine sorgfältige Angewöhnung vorausgesetzt, kaum mehr ein Problem sein. Das Kind sucht mehr und mehr Herausforderungen und Sie tun gut daran, ihm diese auch zur ermöglichen. Gleichzeitig erwartet das Kind, dass Sie immer da sind, wenn es wieder Ihre Nähe braucht. Sie haben also immer eine Art Bereitschaftsdienst zu erfüllen!

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Getragen werden und laufen

Interessanterweise ist das Bedürfnis nach Nähe häufig dann besonders gross, nachdem das Kind einen Entwicklungsschritt gemacht hat, der ihm einerseits mehr Selbständigkeit bringt, andererseits nach einer Art Rückversicherung verlangt, dass es sich immer noch voll und ganz auf seine Eltern verlassen kann. So will es zum Beispiel getragen werden, obwohl es doch schon selbst laufen könnte, was häufig weniger mit Müdigkeit zu tun hat, als mehr mit dem Bedürfnis nach Nähe. Dem sollten Sie, zumindest wenn es Ihre Kräfte zulassen, nachgeben. Lassen Sie das Kind aber auch möglichst immer und sofort laufen, wenn es danach verlangt, ansonsten Sie es geradezu zur Bequemlichkeit treiben würden.

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Konfrontationen und Versöhnung

Der Wille des Kindes kann aber auch weit darüber hinaus gehen und sehr schnell mit Ihren Vorstellungen und Regeln konfrontieren. Sie müssen deshalb lernen, dem Kind auch Widerstand zu leisten und allenfalls angemessen auf das Toben zu reagieren. Denn gerade in solchen Momententen ist es entscheidend, dass Sie zu Ihrem Kind stehen und zwar wortwörtlich, indem Sie in seiner Nähe bleiben und es nicht etwa verlassen, indem Sie es zum Beispiel mit Missachtung oder Wegsperren bestrafen. Ein tobendes Kind wird sich zwar selten berühren lassen, doch braucht es Ihre Ruhe und Nähe, denn es muss erfahren können, dass es trotz dem Konflikt immer noch und bedingungslos von seinen Eltern geliebt wird! Warten Sie also ab, bis es sich beruhigt hat und bereit ist, sich mit Ihnen wieder zu versöhnen.

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Prävention vor Missbrauch

Das Thema "Nähe und Distanz" ist ein Grundthema in jeder Beziehung, aber auch ein regelmässiger Konfliktherd, ist doch die Gefahr von Grenzüberschreitungen immer latent. Man könnte auch sagen, es geht um das "Ja" und das "Nein!", ausgesprochen oder zumindest signalisiert, und um das Gespür, die Signale des Gegenübers wahrzunehmen und zu respektieren. Kinder haben dieses Gespür von Natur aus. Es ist aber entscheidend, dass Sie es ihnen belassen, indem Sie eben Ihrerseits ein Gespür dafür entwickeln, wie viel Nähe oder eben Distanz das Kind gerade braucht. Je besser Sie das können, desto mehr wird das Kind bestätigt, dass es sich auf das verlassen kann, was es spürt. Und je besser sich das Kind auf sein Gespür verlassen kann, desto besser ist es vor Missbrauch geschützt, denn es weiss dann aus Erfahrung, dass es "Nein!" sagen darf und dass dieses "Nein!" auch respektiert wird. Es gibt denn auch keine bessere Prävention vor Missbrauch als der elterliche Respekt gegenüber dem Kind! Wenn hingegen die Grenzen des Kindes immer wieder von den eigenen Eltern überschritten werden, gewöhnt es sich daran und verinnerlicht irgendwann, dass das einfach normal sei. Die Gefahr ist dann gross, dass es sich, wenn auch unbewusst, gerade solche Partner für seine Beziehungen aussucht, die ebenfalls mangelnden Respekt für Grenzen haben, sodass dann der Teufelskreis perfekt ist.

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Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email


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