Grenzüberschreitungen der Eltern


Kinder kommen zunächst einmal grenzenlos zur Welt. Die Gefahr ist schon allein deshalb gross, dass ihre eigenständige Persönlichkeit übergangen wird. Zudem sind sie aufgrund ihrer körperlichen Kräfte und der kognitiven Entwicklung noch auf Gedeih und Verderb auf die elterliche Sorge angewiesen, sodass sie sich gegen Übergriffe nur schwer zur Wehr setzen können. Als Eltern sollten Sie deshalb sehr aufmerksam sein und ein Gespür für die Signale des Kindes, in den ersten Jahren insbesondere auch die Mimik und Gestik, entwickeln.

Grenzüberschreitungen können sehr offensichtlich sein, aber auch eher subtil daherkommen und sind gleichwohl nicht harmlos. Zudem können Grenzverletzungen auch dadurch entstehen, dass Grenzen zwar nicht überschritten werden, doch insofern nicht wahrgenommen werden, als dass sich die Eltern gewissermassen von den Grenzen des Kindes entfernen.

Zwingen und das "Nein!" des Kindes

Sobald das Kind beginnt, seinen Willen zu entwickeln, in der Regel etwa im dritten Lebensjahr, wird es auch verstärkt "Nein!" sagen. Als Eltern müssen Sie das respektieren, denn Zwang wäre eine Grenzüberschreitung. Das bedeutet allerdings nicht, dass Sie sich einfach dem Willen des Kindes beugen sollen. Wenn das Kind zum Beispiel entgegen Ihrer Absicht nicht zu den Grosseltern will und das lauthals mit einem "Nein!" bekundet, dürfen Sie es nicht einfach packen und davontragen, das wäre höchst kontraproduktiv und würde sich schon bald, wenn das Kind nur ein weniger kräftiger und geschickter ist, rächen! Sie müssen sich vielmehr zunächst sicher werden, ob Sie an Ihrem eigenen Entschluss festhalten wollen oder ob es zum Beispiel eine Alternative gibt, mit der Sie auch leben können. Falls Sie hingegen bei Ihrer Haltung bleiben, müssen Sie das dem Kind nochmals klar sagen und den Grund dafür angeben ("Ich muss zum Zahnarzt und kann Dich dort nicht mitnehmen."). Die allermeisten Kinder, die während der Phase der Vertrauensbildung die Erfahrung machen durften, dass ihre Grundbedürfnisse möglichst immer und sofort befriedigt wurden, werden sehr kooperativ reagieren.

Doch nicht jedes Kind lässt sich einfach durch vernünftiges Zureden von seinem gefassten Entschluss abhalten. In diesem Fall müssen Sie für die Konfrontation bereit sein und allenfalls lernen, angemessen auf das Toben zu reagieren. Dabei werden Sie in Kauf nehmen müssen, dass Ihr Pläne vielleicht einmal durcheinander kommen, weil das zumindest beim ersten Mal eine gewisse Zeit kostet. Im Idealfall, wenn Sie bereits beim ersten Mal richtig reagiert haben, wird das höchstens zwei bis drei Mal der Fall sein, denn danach werden Sie mit dem Kind vereinbart haben, wie Sie den Konflikt beim nächsten Mal angehen. Wichtig ist, dass das Kind in Ihren Entscheid muteinbezogen wird, dann wird es automatisch Verantwortung übernehmen und noch so gerne mit Ihnen kooperieren!

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Zwangsbeglückung

Eltern wollen in aller Regel ja "nur das Beste" für ihre Kinder. Und selbstverständlich kennt kaum jemand die Kinder und deren Bedürfnisse besser als deren eigene Eltern. Trotzdem dürfen Eltern nicht vergessen, dass letztlich nur das Kind selbst weiss, was es will und was ihm gut tut. Sie sollten sich deshalb nicht in allzu grosser Sicherheit wiegen, wenn Sie meinen, immer genau zu wissen, was Ihr Kind braucht. Denn das Kind hat eine eigene Persönlichkeit, die sich auch den Eltern nie ganz erschliessen wird. Sie tun deshalb gut daran, das Kind besser einmal zu viel als einmal zu wenig zu fragen, ob Sie ihm zum Beispiel helfen sollen oder ob es hochgenommen werden will. Ansonsten ist die Gefahr gross, dass Sie das Kind zwangsbeglücken, das heisst ihm gegen seinen Willen Gutes antun wollen. Das vermeintlich Gute ist dann von zweifelhaftem Wert, so zum Beispiel:

  • Unverlangte Hilfe: Helfen Sie Ihrem Kind nur dann, wenn es auch danach verlangt. Am Anfang kann sich das Kind zwar erst sehr subtil mitteilen (insbesondere durch seine Mimik und Gestik), doch schon bald kann sich das Kind sehr klar verständlich machen, wenn es Hilfe braucht. Im Zweifel sollten Sie besser länger warten und zunächst einmal seinen Fähigkeiten vertrauen lernen.
  • Unnötiger Schutz: Ähnliches gilt, wenn Sie meinen Ihr Kind schützen zu müssen, obwohl es das gar nicht braucht. Das geschieht zwar regelmässig in bester (und manchmal auch absolut notwendiger) Absicht, doch sehr häufig eben auch völlig unnötig und daher kontraproduktiv. Wenn das Kind zum Beispiel aufzustehen beginnt, sollten Sie es auch hinfallen lassen, denn es braucht diese Erfahrung unbedingt, ansonsten es das Gefühl für das Gleichgewicht nicht entwickeln kann. Bei den meisten Gefahren handelt es sich durchwegs um mehr oder weniger harmlose Bagatellgefahren, also solche, die dem Kind vielleicht weh tun können, ansonsten aber eine keinerlei Verletzungen verursachen.
  • Unerwünschte Liebkosungen: Kinder sind zwar im Allgemeinen äusserst empfänglich für Liebkosungen, doch haben auch Kinder nicht immer Lust dazu und schon gar nicht einfach mit jedermann. Lassen Sie das Kind also zum Beispiel selbst bestimmen, wem es ein Abschiedsküsschen geben will und wem nicht. Notfalls müssen Sie zum Beispiel auch Verwandte zurückhalten, wenn diese meinen, sie hätten einen Anspruch darauf!
  • Verwöhnen: Verwöhnen kann zwar durchaus eine positive Seite haben, wenn es darum geht, die Grundbedürfnisse des Kindes möglichst sofort und umfassend zu befriedigen. Doch alles andere, wie das Überhäufen mit Geschenken oder das dauernde Anbieten von Süssigkeiten, ist für das Kind schlicht eine Überforderung und höchst kontraproduktiv.
  • Festhalten gegen den Willen: Kinder brauchen zwar sehr viel körperlichen Kontakt, das heisst sie wollen gehalten und liebkost werden. Allerdings wollen sie selbst bestimmen, wann und wie lange. Festhalten des Kindes gegen seinen Willen ist deshalb immer eine Grenzüberschreitung, auch wenn es mit humoristischen oder ironischen Bemerkungen verbunden wird ("Mama will Dich auch mal knuddeln"). Noch heikler wird es, wenn Sie meinen, Sie könnten ein tobendes Kind durch Festhalten beruhigen.

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Missachtung

Die elterliche Distanzierung vom Kind mag zwar vom Wortlaut her schon fast das Gegenteil einer Grenzüberschreitung sein, doch ist das dahinter liegende Problem das gleiche: Eigentlich sollte eine Grenze gesetzt werden, doch wird stattdessen die Grenze gewissermassen von sich weggeschoben. Eltern, die mit dem Bewegungsdrang oder dem unbändigen Willen ihrer Kinder überfordert sind, kommen häufig in Versuchung, ein "ungehorsames" Kind zum Beispiel einfach wegzuzerren.

Körperliche Distanzierung

Die Hoffnung, das Kind mit Gewalt beruhigen oder "zur Vernunft" bringen zu können ist weder erfolgversprechend noch nötig:

  • Wegsperren: Auf den ersten Blick scheint es sehr einfach, ein Kind, das nicht tut oder lässt, wie es die Eltern gerne hätten, solange zum Beispiel in sein Zimmer zu sperren, bis es "zur Vernunft kommt". Bloss: Wenn das Kind danach "entlassen" wird, ist es höchstens vermeintlich wieder zur Vernunft gekommen. Denn es hat in erster Linie vor der elterlichen Übermacht resigniert, weil sein Wille gebrochen wurde. Und mit grösster Wahrscheinlichkeit hat es in der Zeit, während der es einsam und eingeschlossen war, einen meist fatalen Entschluss gefasst: Wenn es erst einmal gross und stark genug ist, wird es sich rächen, sei es, dass es seinen Eltern ähnliche Gewalt antun will, sei es, dass es bei erstbester Gelegenheit von zu Hause fliehen wird. Wegsperren ist also erstens ausgesprochen kontraproduktiv und zweitens auch gar nicht nötig: Wenn Sie vom Kind etwas verlangen, genügt es, dass Sie es mit wirklicher Überzeugung tun, und zwar einmal, dafür aber laut und deutlich. Gerade während der Phase der Willensbildung, in der Regel also etwa im dritten Lebensjahr, müssen Sie sich besonders konsequent vorgehen. Ansonsten werden Sie womöglich, nachdem Sie vom Kind schon unzählige Male bloss halbherzig etwas gefordert haben, die Nerven verlieren und eben in Versuchung kommen, das Kind einfach wegzusperren.
  • Wegschicken: Ähnliches gilt für den Fall, dass Sie das Kind zwar nicht gerade mit Gewalt wegsperren, sondern ihm zum Beispiel befehlen, für eine Viertelstunde in sein Zimmer zu verschwinden. Immerhin geben Sie dem Kind auf diese Weise noch die Möglichkeit, sich dem Befehl zu entziehen und zum Beispiel woanders hinzugehen (was aber unter Umständen noch gefährlicher sein kann, da Sie dann nicht einmal mehr wissen, wohin das Kind ging). Wenn das Kind zum Beispiel in Ihrem Wohnzimmer zu laut ist, wäre es sinnvoller, mit ihm ein Vereinbarung zu suchen, in der es die Wahl hat, entweder ruhiger zu spielen, oder in sein Zimmer zu gehen, wo es laut sein darf. Sobald das Kind eine Wahl hat, also selbst entscheiden darf, wird es auch bereit sein, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Diese Kooperationsbereitschaft hat das Kind übrigens schon von Natur aus!
  • Verlassen: Besonders heikel wird es, wenn Sie Ihr Kind, wenn es nicht gehorcht, einfach verlassen (oder ihm damit drohen), auch wenn es bloss für kurze Zeit gemeint ist. Gerade Kleinkinder haben noch kein Gefühl für Zukunft, sie werden also davon ausgehen, dass Ih Verschwinden endgültig ist. Verlassenwerden ist so ziemlich das Schlimmste, was einem Kind geschehen kann. Zudem sind Strafen in der Erziehung nicht bloss unnötig, sondern ausgesprochen kontraproduktiv. Und schliesslich können Sie damit auch das eigentliche Problem, nämlich dem Kind eine Grenze zu setzen, nicht lösen, da es eben gar nicht mehr da ist.

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Emotionale Distanzierung

Die Distanzierung kann auch auf der Gefühlsebene geschehen. Dadurch entsteht eine Entfernung, die der Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind natürlich alles andere als förderlich ist:

  • Verachten beziehungsweise Missachten: Kinder brauchen gerade in den ersten, alles entscheidenden Phasen der Erziehung sehr viel Beachtung. Das heisst zwar nicht, dass sie dauernd im Mittelpunkt stehen müssen, doch wenn das Kind immer wieder die Erfahrung macht, dass seine Eltern sich zum Beispiel nicht dafür interessieren, was es Schönes gezeichnet hat oder gerade auf seinem Fahrrad gelernt hat, wird es sich nicht mehr angenommen fühlen und entsprechend reagieren, sei es durch übermässiges Stören (sodass es irgendwann dann doch noch Beachtung erhält), sei es durch Resignieren, weil es beschlossen hat, dass es sich noch so viel Mühe geben kann und von seinen Eltern trotzdem nicht geliebt wird.
  • Verspotten: Noch ärger ist, wenn das Kind ausgelacht oder gar verspottet wird, weil ihm zum Beispiel etwas misslungen ist. Das kann zum Beispiel auch durch scheinbar harmlose, weil ironische, Bemerkungen ("So, hast Du es wieder einmal geschafft, eine Überschwemmung zu veranstalten!") geschehen und ist trotzdem kontraproduktiv, weil Kinder zumindest in den ersten Jahren noch gar keine Ironie verstehen können und so bestenfalls verwirrt werden.
  • Ignorieren: Wenn Sie das Kind nicht beachten, ignorieren Sie damit auch seine Grenzen. Wenn das Kind zum Beispiel Sie etwas fragt und Sie einfach mit Ihrem Kollegen weiterdiskutieren, als wäre nichts, entsteht auch kein Kontakt zum Kind. Selbstverständlich heisst das nicht, dass Sie jedes Gespräch unterbrechen sollen, nur weil Ihr Kind gerade etwas von Ihnen will. Wenn Sie aber nicht unterbrochen werden wollen (was Sie vom Kind ab einem gewissen Alter durchaus fordern dürfen), müssen Sie ihm das auch zwingend sagen ("Warte bitte einen Moment, ich komme gleich."). Abgesehen davon, dass es Sie einige Energie kosten dürfte, das drängende Kind zu ignorieren, kommt noch dazu, dass Kinder sehr ausdauernd sind, wenn es um ihre Grundbedürfnisse geht (und deshalb auch entsprechend erfinderisch werden, wenn es darum geht, Sie genügend zu stören).
  • Metaebene: Wenn Sie versuchen, mit Ihrem Kind über sein Verhalten oder Ihre Erziehung zu diskutieren, ist das vor allem eine Überforderung des Kindes. Äusserungen wie "Du respektierst mich nicht!" oder "Provoziere mich nicht!" kann das Kind schlicht nicht verstehen und entsprechend kann es auch gar nicht "vernünftig" reagieren. Bedenken Sie, dass zwischen den Eltern und dem Kind einer Hierarchie besteht, das heisst die Verantwortung für die Beziehung liegt zumindest in den ersten Jahren bei Ihnen als Eltern. Sie sind es, die lernen müssen, zunächst dem Kind zu vertrauen und später seinem Willen auch angemessen Grenzen entgegenzuhalten. Eine intellektuelle Auseinandersetzung zum Thema Erziehung mit Kindern ist in der Regel erst etwa mit der Pubertät möglich, das heisst wenn Jugendliche beginnen, über sich selbst zu reflektieren.
  • Mitleid: Wenn sich das Kind zum Beispiel aus irgendeinem Grund weh tut, ist das für viele Eltern aufgrund ihrer engen Beziehung so, als hätten sie die Verletzung selbst erlitten, sie beginnen gerne mitzuleiden. Das mag zwar verständlich sein, doch hilft es dem Kind wenig, da es nun die Stärke der Eltern brauchen würde, die es trösten - und nicht Eltern, die vor lauter Leid beinahe selbst handlungsunfähig werden. Eltern sollten in solchen Situationen vielmehr mitfühlen, das heisst gleichzeitig das Kind annehmen, wie es ist, und ihre eigenen (!) Gefühle wahrnehmen.

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Misshandlung und Missbrauch

Dass die körperliche Misshandlung wie Schlagen oder der (sexuelle) Missbrauch von Kindern zumindest in der westlichen Zivilisation die Rechte des Kindes verletzen und strafbar sind, dürfte selbstverständlich sein und muss hier nicht weiter ausgeführt werden.

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Mögliche Folgen

Zwangsbeglückungen stellen zwar in der Regel keine strafbaren Handlungen dar. Doch können sie bei Kindern zu einem Verhalten führen, das sie anfälliger für eigentlichen Missbrauch machen lässt: Das Kind "lernt", dass andere "besser" wissen, was für es gut und richtig ist, sodass es mehr und mehr aufhört, seinem eigenen Gespür zu folgen. Daraus kann Abhängigkeit statt Selbständigkeit entstehen. Je nach Persönlichkeit wird das Kind dagegen protestieren (im besseren Fall!) oder es wird resignieren und sein Glück ausserhalb seiner selbst suchen, wie zum Beispiel in Idolen.

Ein grosses Missverständnis besteht darin, dass Grenzen bloss trennen würden. Grenze sind nämlich genau der Ort, wo sich zwei Länder, oder eben Eltern und Kind, berühren! Wenn also Eltern keine Grenzen setzen, zum Beispiel aus lauter Angst als "böse" wahrgenommen zu werden, verhindern sie damit, dass eine Berührung und somit eine Beziehung entstehen kann. Diese meist unbewusste Angst ist regelmässig in einem mangelnden Vertrauen begründet. Oder anders gesagt: um dem Kind konsequent "Nein!" sagen zu können, müssen die Eltern zuvor wirklich "Ja" gesagt haben.

Da Kinder ihre Eltern zunächst einmal uneingeschränkt, also unabhängig von positiven oder negativen Eigenschaften, zum Vorbild nehmen, werden sie ganz selbstverständlich ebenso wenig ein Gespür für Grenzen entwickeln und schon bald als respektlos und frech wahrgenommen. Die Verantwortung dafür liegt aber nicht etwa bei den Kindern, sondern bei den Eltern.

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Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email


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