Angst des Kindes


Angst ist, nebst Freude, Wut und Trauer, eines der vier Grundgefühle, das heisst ein elementares, reines und von Geburt an vorhandenes Gefühl. Kinder ängstigen sich vor allem dann, wenn sie Unbekanntem oder Gefahren begegnen, ganz gleich, ob es sich um Menschen, Orte oder Situationen handelt.

Angst ist ein ebenso wichtiges Gefühl wie alle anderen: es geht um eine Botschaft, die der Mensch wahrnehmen soll. Angst zeigt dem Menschen, dass er vorsichtig sein soll, weil ihm entweder das Wissen oder die Erfahrung fehlt, angemessen auf die Situation oder die Gefahr zu reagieren. Hat das Kind Angst, braucht es zumindest in den ersten Jahren den Beistand seiner Eltern, die ihm zeigen, wie es sich am besten verhält. Daraus kann es lernen und ein Gespür dafür entwickeln, wie es beim nächsten Mal die Situation selbst meistern kann, beziehungsweise ob es besser Hilfe verlangt. Gespür ist für das Handeln und Entscheiden des Menschen ebenso wichtig wie der Verstand!

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Angst vor Verlassen werden

Menschenkinder sind bei ihrer Geburt vollkommen von der Sorge ihrer Eltern abhängig, sie wären alleine nicht überlebensfähig. Und sie vertrauen ihren Eltern, dass diese immer und sofort für sie sorgen. Es ist denn auch nicht weiter erstaunlich, dass sich vor allem Kleinkinder ständig vergewissern, ob Sie noch in Ihrer Nähe sind. Und es gibt für ein Kind kaum etwas Schlimmeres als von seinen Eltern verlassen zu werden. Es spielt zudem keine Rolle, ob Sie einen guten Grund haben, das Kind zu verlassen oder einfach aus Gedankenlosigkeit oder Unbekümmertheit handeln. Die Angst des Kindes, verlassen und nicht mehr umsorgt zu werden, ist elementar und völlig unabhängig von den Umständen. Kleinkinder haben zudem noch keinerlei Vorstellung von einer Zukunft, das heisst sie können sich nicht vorstellen, dass Sie irgendwann wieder zurück kommen. Wenn Sie für das Kind nicht mehr wahrnehmbar sind, sind Sie es für das Kind vollkommen und für immer.

Sie müssen deshalb sehr achtsam sein, wenn es um Nähe und Distanz geht. Kinder müssen zuerst erfahren können, dass ihr Vertrauen in ihre Eltern immer wieder bestätigt wird. Dazu dient zum Beispiel das Verstecken spielen, das Kinder von Anfang lieben. Es geht darum, dass das Kind in ganz kleinen Schritten erfährt, dass Sie immer wieder zum Vorschein kommen, wenn Sie mal kurz weg sind. So kann es mit der Zeit die Regelmässigkeit erkennen und immer längere Absenzen aushalten. Durch das Wechselspiel zwischen gespanntem Warten und freudigem Wiedersehen wird das Vertrauen des Kindes in die Zuverlässigkeit seiner Eltern bestätigt. Als Eltern können Sie dabei Ihr Gespür entwickeln und je länger desto besser feststellen, wann das Kind loslässt und Sie sich entfernen können. Dieses Gespür brauchen Sie schon, wenn Sie das Kind schlafen legen, denn auch hier geht es darum, dass es im Vertrauen loslassen kann, dass Sie wieder da sind, sobald es aufwacht.

Ein nächster grosser Schritt ist dann das Abschied nehmen, zum Beispiel für die Zeit der Fremdbetreuung. Wenn Sie bedenken, dass bei jedem Abschied auch die Möglichkeit besteht, dass die Trennung endgültig sein kann, können Sie die Angst des Kindes, verlassen zu werden, einfacher verstehen. Es gibt deshalb nur einen Weg: in kleinen Schritten üben! Wenn Sie dem Kind zu viel zumuten, wird es sich überfordert fühlen und beim nächsten Mal noch mehr Angst haben, sodass schnell ein Teufelskreis entstehen kann. Zudem ist der Abschied nicht nur für das Kind eine Herausforderung, sondern meistens auch für Sie als Eltern, was häufig gerne unterschätzt wird. Auch Sie müssen deshalb lernen, wie das Verabschieden von Kindern am einfachsten geht!

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Angst vor Unbekanntem und Fremden

Kinder haben zwar von Natur aus grosses Vertrauen nicht nur in ihre Eltern, sondern überhaupt in das Leben. Auch sind sie neugierig. Trotzdem sind sie bei Neuem zumindest vorsichtig oder eben gar ängstlich. Das macht ja auch Sinn, schliesslich kann das Kind noch nicht wissen, ob ihm der Unbekannte wohlgesinnt ist oder ob die Beeren am Strauch geniessbar sind. Begleiten Sie deshalb das Kind und sagen Sie ihm, auf was es sich einlassen darf und wo es besser die Finger davon lässt. Respektieren Sie aber immer, wenn sich das Kind ängstigt und nehmen Sie es dabei ernst, auch wenn Sie der Meinung sind, dass es nichts zu befürchten gäbe. Das Kind kann so lernen, zwischen seinem eigenen Gefühl der Angst und Ihrem Rat abzuwägen. So kann es das für Entscheidungen so wichtige Gespür entwickeln, was nebst dem Verstand mindestens so wichtig ist. Fragen Sie es einfach, ob es Angst hat und stellen Sie sich, wenn es bejaht, schützend zu ihm. Es macht überhaupt keinen Sinn, ihm zum Beispiel weismachen zu wollen, es müsse sich nicht fürchten. Denn der Mensch kann nicht wählen, ob er Angst hat oder nicht, Gefühle sind einfach da und können nicht vertrieben werden.

Angst mahnt das Kind immer zur Vorsicht. Lassen Sie dem Kind diese Vorsicht unbedingt, denn es ist die Grundlage für ein gesundes Risikobewusstsein. Nur wenn das Kind selbst abwägen darf, ob es ein Risiko einzugehen bereit ist, kann es auch mit den Konsequenzen umgehen. So übernimmt es mehr und mehr Verantwortung für sein Leben. Wenn Sie dem Kind hingegen aus lauter Sorge dauernd den Entscheid abnehmen, auf wen oder was es sich einlassen soll, wird sein natürliches Gespür unweigerlich beeinträchtigt und die Gefahren erst recht viel grösser, da Sie das Kind irgendwann ja nicht mehr dauernd überwachen können und ihm dann prompt die Fähigkeit fehlt um vernünftig entscheiden zu können.

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Angst vor Gefahren

Kinder haben von Natur aus ein ausgezeichnetes Bewusstsein für Gefahren. Jedenfalls für natürliche Gefahren und solange ihnen ihr ebenfalls von Geburt an vorhandenes Gespür gelassen wird. Es ist deshalb entscheidend, dass die Eltern die Angst des Kindes ernst nehmen und nicht einfach zu verharmlosen versuchen ("Du brauchst doch keine Angst zu haben!").

Natürliche Gefahren

Die westliche Zivilisation ist ständig bemüht, den Menschen möglichst vor sämtlichen Gefahren, die das Leben schon von Natur aus mitbringt, zu beschützen. Gleichzeitig verlieren die Menschen mehr und mehr die Übung in einem vernünftigen Umgang mit ebendiesen Gefahren. Kinder aber kommen noch mit einem intakten Gespür zur Welt, das Sie Ihnen möglichst lassen sollten:

  • Tiere: Kinder fürchten sich natürlich vor allem vor grösseren Tieren. Aber zum Beispiel auch gestreichelte Hauskatzen können sich von Kindern derart bedroht oder belästigt fühlen, dass sie unvermittelt zum Angriff übergehen, ohne dass das Kind Angst gehabt hätte. Sie müssen deshalb dem Kind erklären, dass auch Hauskatze gefährlich werden kann und ihm zeigen, dass es erstens zuerst fragen muss, ob es das Tier streicheln darf und zweitens mit ihm zusammen sachte auf das Tier zugehen.
  • Hitze und Kälte: Übermässige Hitze und Kälte können schmerzhaft sein. Kinder haben aber in der Regel keine angeborene Angst zum Beispiel vor der Kerzenflamme, sie werden ganz im Gegenteil wie magisch davon angezogen. Sie müssen deshalb zuerst einmal erfahren haben, dass es weh tun kann. Machen Sie dem Kind deshalb zum Beispiel vor, wie nahe Sie selbst mit dem Finger an die Flamme gehen können, bis es unangenehm ist. Danach kann das Kind, selbstverständlich eng durch Sie begleitet, auch ausprobieren und wird irgendwann so weit gehen, bis es schmerzt (und von Ihnen "trotzdem" und bedingungslos getröstet werden muss!). Spätestens von da an, wird es genügen Respekt haben, wenn Sie es vor der heissen Flamme oder Pfanne warnen. Wichtig ist also immer, dass Sie das Kind auch schmerzvolle, aber an sich harmlose Erfahrungen machen lassen, sodass es ein Gespür für wirkliche Gefahren entwickeln kann.
  • Stolpern und Hinfallen: Wenn das Kind beginnt laufen zu lernen, stolpert es natürlich noch oft und fällt auch immer wieder mal hin. Angst davor hat es nicht im geringsten, und braucht es auch gar nicht zu haben, fällt es doch noch weich und kann sich dabei kaum je verletzen. Angst haben höchstens die Eltern. Sie sollten sich aber bewusst sein, dass Kinder diese Erfahrung unbedingt [[Selbst tun]selbst]] machen müssen, da sie nur so lernen können, dass sie zum Beispiel bei Schwellen die Füsse höher heben müssen. Tut sich das Kind weh, braucht es natürlich Trost (und nicht etwa den Vorwurf, dass es doch besser hätte aufpassen sollen).
  • Stürzen: Ähnliches gilt auch für Stürze. Auch davor haben Kinder keine Angst und brauchen auch keine zu haben, denn die Gefahr, dass ein Kind irgendwo herunterstürzt, wo es selbst hochgeklettert ist, ist höchst gering! Hingegen ist die Gefahr immer dann gross, wenn Sie das Kind irgendwo hochheben, insbesondere auf den Wickeltisch legen. Denn das Kind vertraut Ihnen ja vollkommen, kann sich also gar nicht vorstellen, dass Sie es in Gefahr bringen, wohingegen es dort, wo es selbst hochklettert, sich sehr wohl bewusst ist, dass es sich gut halten muss. Ein Kind klettert von sich aus im übrigen auch nur so hoch, wie es keine Angst hat. Sobald es Angst hat, will es wieder runter. Diese Vorsicht haben Kinder schon von Natur aus, übrigens genauso wie das Geschick zum Klettern!

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Künstliche Gefahren

Grundsätzlich anders steht es mit den künstlichen Gefahren, insbesondere solchen, die von Maschinen oder vom Strassenverkehr ausgehen. Denn diese Gefahren sind für Kinder aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten noch nicht einschätzbar. Sie haben denn auch meistens gar keine Angst, wenn die Maschinen nicht gerade Lärm machen. Entsprechend wichtig, aber eben auch gleichzeitig schwierig, ist es deshalb für Eltern, den Kindern diese Gefahren bewusst zu machen, zumal es meistens zu folgenschwer sein kann, das Kind die Gefahr einfach einmal erfahren zu lassen. Es bleiben deshalb bloss zwei Möglichkeiten: Entweder Sie halten das Kind von allen gefährlichen Dingern wie zum Beispiel Maschinen oder Medikamenten fern, was allerdings irgendwann nicht mehr möglich ist, oder Sie tasten sich zusammen mit dem Kind langsam an, indem Sie ihm zum Beispiel den Kochherd erklären und es auch einmal eine (selbstverständlich nicht allzu heisse) Pfanne kurz berühren lassen. Denn ganz ohne eigene Erfahrung kann ein Kind nicht lernen! So wird es, wenn es Sie beim nächsten Mal beim Kochen begleiten darf, bereits eine gewisse Angst vor dem Kochherd haben. Denn auch für künstliche Gefahren muss das Kind ein Gespür entwickeln können, ansonsten es je länger desto gefährlicher wird.

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Angst und Vorsicht

Während die Angst ein Gefühl ist, das Kinder schon von Geburt an haben, setzt Vorsicht ein Mindestmass an Verstand voraus. Kinder können deshalb zum Beispiel erst dann mit der Flamme einer Kerze vorsichtig umgehen, wenn sie mindestens einmal erfahren haben, dass diese heiss ist und sie auch den Zusammenhang zwischen der Hitze und dem Schmerz verstanden haben. Erklärungen der Eltern können zwar ein Anfang für das Verstehen sein, genügen aber in den seltensten Fällen! Im Idealfall, wenn also die Eltern die Angst des Kindes ernst nehmen und es eigene Erfahrungen mit Gefahren machen lasen, kann das Kind das Gefühl der Angst wahrnehmen und gleichzeitig wissen, ob es vorsichtig sein muss. Denn entscheidend ist das Zusammenspiel von Gespür und Verstand.

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Ersatzgefühle

Ersatzgefühle entstehen vor allem dann, wenn die Angst des Kindes von den Eltern nicht ernst genommen, verniedlicht, verspottet, verharmlost oder mit falschen Absichten vermischt wird. Beispiele (in alphabetischer Reihenfolge):

Um solche Fehlentwicklungen zu vermeiden, ist es also wichtig, dass Sie die Angst des Kindes immer und bedingungslos ernst nehmen. Fragen Sie es deshalb, ob es Angst hat, wenn Sie es zum Beispiel zögern sehen, suchen Sie aber nicht nach einer Rechtfertigung für sein Gefühl, denn es braucht keine! Angst ist ein Gefühl, das - wie alle anderen Gefühle - einfach da ist oder eben nicht. Angst beinhaltet aber immer die Botschaft "Sei vorsichtig!". Und Vorsicht kann schliesslich nie schaden. Überlassen Sie es dem Kind zu erfahren, ob die Vorsicht nötig war oder nicht. So kann es sein eigenes Gespür erhalten und weiterentwickeln.

Noch heikler ist es, wenn Sie das Kind auslachen, weil es Angst hat. Es wird sich abgelehnt fühlen und sein Vertrauen, das es eigentlich von Natur aus in seine Eltern hat, wird gestört, was wiederum sein Selbstvertrauen beeinträchtigt.

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Weiterführende Themen

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Übergeordnetes Thema

Vertrauensbildung (erstes Phase der Erziehung)

Fragen und Feedback

Das "Zweimalzwei der Erziehung" ist zum Teil noch im Aufbau. Allfällige Fragen oder Feedback sind willkommen: Email

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